Dunkel lockende Welt

Wahrheiten um einen Zeh

d'Lëtzebuerger Land vom 02.05.2014

Im Mittelpunkt ein aufgefundener Zeh. Ohne Körper, versteht sich. Dieser Zeh – so fordern es die Gesetze der Logik – war irgendwann einmal Bestandteil eines Organismus. Dieser Zeh, von faulig säuerlichem Geruch, deutet auf das hin, was das geschulte Krimileserhirn als Kern jeder Kriminalgeschichte erwartet und aufzuklären sucht: einen Mord. Wo ist die Leiche, wer ist Opfer, wer Täter? Nichts Neues. Ein Krimi halt.

Einen Haken hat die Sache doch noch. Das einzige, was auf dieses Verbrechen hindeutet, ist dieser, nun ja, Zeh. Kein Ermittler bemüht sich um Aufklärung. Bei Händl Klaus tritt eine andere Dramaturgie in Kraft. Um Vermieter Hufschmied (Nickel Bösenberg), Mieterin und Kieferorthopädin Dr. Schneider (Leila Schaus) sowie deren Mutter und Botanikerin Mechthild (Christiane Rauchs) windet sich ein sprachliches Geflecht von Dialogen, die als harmloses Abtasten beginnen, rhythmisch und metaphorisch jedoch zusehends in Verhöre und Anschuldigungen münden. Die Sprache hat Vorrang.

Corinna kündigt ihre Mietwohnung. Anlässlich der Übernahme findet der Vermieter in den eigentlich steril gereinigten Räumen jenes ominöse Körperteil. Ein Objekt für anatomische Seminare, das sie übersehen haben will? Doch die Besprechung dieses Fundes führt beide in bizarre Dialoge über Totenkulte und Rituale bei exotischen Naturvölkern, darunter jene aus Peru, wohin sie auszuwandern plant. Immer stärker, ja vor allem doppelbödig und rhythmisch durchdacht, baut sich eine Spannung auf, die nicht nur die knisternden Zwiegespräche dieser, sondern auch der folgenden Szenen prägt.

Auch das Gespräch zwischen Mutter und Tochter inmitten eines üppig bepflanzten Gartens führt weniger zur Aufklärung als vielmehr zum Aberwitz. Während die Tochter unter anderem versucht, die Wahrheit über ihren leiblichen Vater in Erfahrung zu bringen und der Mutter Persönliches zu entlocken, versteckt sich Letztere hinter einem Wortschwall an botanischem Jargon. Ihre abgehetzten Ausführungen über die Photosynthese erfüllen zwei Funktionen: Zum einen sind sie ihr dabei behilflich, von Intimimem abzulenken. Zum anderen jedoch entwickelt sich aus dem Zusammenspiel von Definitionen über Aktion und Reaktion in der Pflanzenwelt sowie Christiane Rauschs Gestik des Wahns und der Aggression ein zweiter Kanal zum Ausdruck intim-emotio-naler Beziehungen. Kurz: Was Mechthild nicht menschlich aussprechen kann, drückt sie mit der Pflanzenmetaphorik aus. In diesem Sinne sei Rausch ein besonderes Lob für ihren minutenlangen Photosynthese-Vortrag ausgesprochen! Händls Sprache liefert Komik, Groteske und menschliche Abgründe auch und gerade dank der Akteure.

Anfangs scheinen die Darsteller ihre Anspannung nicht ablegen zu können, wirken von der Last dieser lexikalischen Wucht wie erdrückt – ein Trugschluss: Nicht die Darsteller, sondern ihre Figuren verkrampfen unter der Last ihrer eigenen Sprache, die Gesichter spannen unter dem Gesagten, Abgehackten, Abgewürgten. Der Abgrund ist in jeder Szene greifbar, nicht nur physisch in dem von Milli Schlesser simulierten durchbrochenen Bühnenboden.

Anne Simon wählt zudem eine Art einseitiger Publikumsbefragung aus, bei der ins Mikrofon gesprochene Statements an die Zuschauer gerichtet werden. Mit diesem Kunstgriff erweckt die Regie den Eindruck, als solle das Publikum die Enigmen des Bühnengeschehens aufdröseln und ermitteln – eine aussichtslose Aufgabe. Denn die dunkel lockende Welt von Flucht, Exotik und Verbrechen bleibt in objektiver Lesart ein Rätsel bis zum Ende. Interpretationen sind nur subjektiv möglich und selbst dies gestaltet sich schwierig.

Simons Inszenierung von Händls Dunkel lockende Welt, eine Produktion des Kasemattentheaters mit Unterstützung der österreichischen Botschaft und der Uni Luxemburg, überzeugt als verdichtetes und witziges Wortgefecht zwischen verstörten Figuren. Es bietet sich ein Krimi voller Enigmen und diffuser Hintergründe. Wem der Zeh schlussendlich gehört(e), ist dabei zwischen Lüge und Wahrheit kaum von Belang.

Dunkel lockende Welt von Händl Klaus; eine Produktion des Kasemattentheaters; Regie von Anne Simon; Bühne von Milli Schlesser; Assistenz von Daliah Kentges; mit Nickel Bösenberg, Christiane Rausch und Leila Schaus. Weitere Vorstellungen am 4. und 7. Mai jeweils um 20 Uhr, sowie am 6. Mai um 17 Uhr; Karten unter ticket@kasemattentheater.lu und unter Telefon: 29 12 81.
Claude Reiles
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