William Shakespeares elisabethanisches Theater entsprach keineswegs jener elitären Kunstrichtung, wie sie sich heutigen Vorstellungen zufolge exklusiv an Intellektuelle richtet. Das Renommee der Londoner Theater des frühen 17. Jahrhunderts war anrüchig, die Häuser nicht selten von der Schließung bedroht. Shakespeares gigantische sprachliche Bildhaftigkeit, die zentralen Monologe und zahllosen literarischen Querverweise, Pfeiler seiner heutigen Prominenz, prägten zu Lebzeiten nur eine Seite der Medaille. Narren, Säbelrasseln, lüsterne Seitenhiebe und Schwankszenen machten die andere Seite aus, die des Volkstheaters. Damit ist Shakespeares Thea-ter für jedermann. Gerade auch in seiner möglicherweise düstersten Tragödie, King Lear, gewährt die Vorlage des Barden den Münchner Kammerspielen um Regisseur Johan Simons Raum für Auflockerung: Auf seinen geistigen Irrwegen wird Lear von so mancher Komik etwa durch seinen Narren begleitet. Dieser Witz erlaubt dem Zuschauer zeitweise aufzuatmen und über versteckte politische Sticheleien zu schmunzeln.
Die Intensität der Sprache, sei es Lears Monolog in der Sturm-Szene, seien es die satirischen Seitenhiebe des Narren, kämpft an diesem Abend im Grand Théâtre jedoch gegen die akustischen Herausforderungen des Hauses an. Zahllose Nuancen der Vorlage werden verschluckt und sind kaum hörbar. Gerade André Jungs am Anfang wenig differenzierte Dik-tion wird dem emotionalen Potenzial seiner Figur in den ersten Szenen nicht ganz gerecht. Mimisch hingegen leisten alle, ausschließlich alle Darsteller von Oliver Mallison über Peter Brombacher und Thomas Schmauser bis hin zu Sylvana Krappatsch, Annette Paulmann und Marie Jung höchste Kunst.
Wenn die körpersprachlichen Finessen des Ensembles auch beeindrucken, so kommt man doch nicht umhin, die mimische Interpretation zu hinterfragen. Die Groteske ist in Shakespeares Werk sicherlich keine Ausnahme: „Du hättest nicht alt werden sollen, eh du weise wurdest“, oder: „Es ist der Fluch der Zeit, wenn Irre Blinde führen“, sind nur eine Auswahl zahlloser Bonmots, mit denen die politischen Umstände der englischen Renaissance durch den Kakao gezogen wurden. Simons trägt jedoch viel zu dick auf. Man wähnt sich bisweilen bei Büchner statt bei Shakespeare. Ob das Tierische im machtgierigen Menschen durch den Bauernhof und die freigelassenen, lebenden Schweine symbolisiert wird, ob Intriganten ihre Pläne mit einem Bodycheck absegnen, oder wenn selbst dann noch Komik aufkommt, da Lear den Leichnam seiner Tochter Cordelia vor die erschütterte Gemeinschaft bettet: Die erdrückende Atmosphäre wird durch Shakespeares Witz erträglicher, durch Simons Hang zu Klamauk und Albernheit hingegen zeitweise erstickt. Die veräußerlichte Zerrissenheit und Katharsis des Titelhelden, die König Lears Stärke ausmachen, werden zu oft gedämpft. Auch der erste Teil des Dramas verliert sich in Länge und gelegentlicher Sterilität. Komik zum ungeeigneten Moment ist damit der größte Makel dieser Münchner Lesart. Die gülden aufblitzende Lichtgardine des Palasts, in der sich die Intriganten mehrfach verheddern, und der sich schrittweise auflösende Rollrasen liefern hingegen eine stimmige Kulisse für das im Kern faulende Machtgefüge, für die sich selbst zum Tier werdenden Aristokraten.
Obwohl die letzten beiden Akte insgesamt gelungener ausfallen als der Rest der Produktion, sind es doch vor allem die abschließenden 15 Minuten, in denen die streckenweise sterile Darbietung aufgebrochen wird und sich der seelische Zustand nicht nur textlich, sondern auch emotional offenbart. Neben dem Auftritt des Narren und der sich erst im Nachhinein entwickelnden Bösartigkeit der Geschwister Regan und Goneril – in der Anfangsszene wirken sie wie Backfische! – bildet diese Schlussszene eines der herausragenden Momente der Produktion. Als Thea-terabend eignet sich diese Inszenierung ohne jeden Zweifel. Aber war das die Tragödie des König Lear?