Fünf Jahre sind vergangen. Oder sechs. Sie weiß es, er weiß es besser. Fünf Jahre oder sechs liegt sein überstürzter Abschied, seine Flucht in die Normandie zurück. Er ließ sie allein, eine Tür fiel klickend ins Schloss, fiel ins Schloss ganz so, als schaute er nur für Milch und Brot im Supermarkt vorbei; ganz so, als käme er an diesem Silvesterabend zurück, zurück zu ihr. Sie würden ihre gemeinsame Geschichte weiterspinnen, ihre Geschichte ohne Jakob, ihren Sohn, Opfer eines Verkehrsunfalls. Doch er kehrte nicht um, ließ sie zurück in ihrer Trauer. Eines Tages erhält er einen Brief: Das Grab ihres verstorbenen Kindes müsse verlegt werden, der Friedhofsboden sei mit Giftstoffen verseucht. Die Mutter wünsche die Besprechung mit den Behörden in Anwesenheit des Vaters.
Die niederländische Autorin Lot Vekemans führt das Publikum in diesem von Eva Pieper und Alexandra Schmiedbach übersetzten Bühnendialog in die Welt eines Paares, zwischen dem nicht nur ein verstorbenes Kind, sondern auch die unterschiedlichen Wege im Umgang mit der Trauer stehen. Sie flüchtet in diese abgehackten Sätze, in die Sätze eines biografischen Scherbenhaufens, der konsequent erlittene, auch ritualisierte Trauer, jedoch keine Hoffnung zulässt. „Ich trinke Kaffee bei den Nachbarn/ Ich lese die Zeitung/ Ich weiß, was in der Welt los ist/ Wer wo welchen Krieg anfängt/ Ich kann über Dinge mitreden/ Bei der Arbeit /Bei einem Geburtstag /Bei einem Straßenfest oder wo auch immer.“ Jedes Wort will Zeuge des Lebensmuts sein, der Kontext verkehrt das ins Gegenteil.
Doch da ist auch noch dieses Vorwurfsvolle in ihrer Stimme, dann nämlich, wenn ihr Mann, der Empathie vermeintlich unfähig, sich dieser seelischen Beerdigung verweigert. Er hat die junge Französin Valérie geheiratet, beide erwarten ein Kind. Allabendlich singt er im Männerchor. Aus künstlerisch-ästhetischer Distanz schreibt er gar an einem Roman, an seiner, ihrer Geschichte. Er wirkt anfangs unbeteiligt, kühl. Er klingt ganz so, als habe er sich wie ein nüchterner Kotzbrocken dem Pragmatismus verschrieben. Es mag eine subjektive Lesart sein: Aber es ist gerade er, dessen Leid eher in den Zwischentönen durchbricht, der in seiner lebensbejahenden Haltung das bessere Lebensmodell gewählt hat. Er hat sich mit seiner Lage abgefunden und liefert ein Plädoyer für ein Leben nach dem Leid.
So entpuppt sich das Zusammenkommen dieser beiden Ex-Partner vornehmlich als ihr Konstrukt, als ihre Inszenierung, weil sie wissen will, ob er leidet. Dabei droht sie seelisch an der Erkenntnis zu kollabieren, dass er dem Leid einen Platz, aber nicht die Zukunft geopfert hat.
In diesem 90-minütigen Kammerspiel im Kasemattentheater gewährt Regisseur Johan Leysen den Darstellern Désirée Nosbusch und Germain Wagner einen Raum für Sprache, für Vorwürfe, Aggressivität, Missgunst, für gegenseitiges Abtasten und auch für das hilflose Schweigen dazwischen. Anfangs wirken die Darsteller bei dieser Premiere noch leicht verspannt: Mimisch von Anfang an souverän, schöpfen sie das sprachliche Potenzial der Vorlage erst im Fortlauf aus. Die mimische Leistung von Nosbusch und Wagner lässt die Trauer aber wie eine dritte Figur entstehen, auf einer Bühne, die keiner weiteren Mittel bedarf. Auffällig ist nur die zunächst nicht erkennbare, zum Schluss aber großformatig an die Wand projizierte Aufnahme des eigenen Sohnes, der in seinen jungen Jahren Geige spielte. Im zweiten und im dritten Akt wird das gegenseitige, bisweilen gemeinsame Ringen um den richtigen Trauerprozess derart physisch erlebbar, dass der tosende Applaus am Ende der Vorstellung wie Ehrerbietung und Erlösung zugleich wirkt. Die Darsteller reagierten darauf überrascht und gerührt. Nur an einigen wenigen Stellen vermag es Vekemans subtil, dem Dialog komische Züge zu verleihen, die den Zuschauer verschnaufen lassen, ohne dass der Text ins Alberne abgleitet. Ein bewegendes Bühnenwerk.