Statt dass der kleine Mohr das Taschentuch, das Octavian am Schluss des Rosenkavalier verliert, politisch nicht gerade korrekt, entsorgen muss, zanken junge Frauen und Männer um den Liebesbeweis, der so manche Träne im Laufe der Richard-Strauss-Oper hat auffangen dürfen wie die Brautjungfern um den Hochzeitsstrauß. Die Welt ist wieder in Ordnung: Die Frau des Fürsten Feldmarschall von Werdenberg, die in der Liebe zu dem wesentlich jüngeren Octavian ihre Jugend wiedergefunden hat, sieht selbstbewusst dem Schicksal in die Augen und gibt ihren Liebhaber an Sophie frei: „Hab mir’s gelobt, ihn lieb zu haben in der richtigen Weis’.“
Das Finale des Rosenkavaliers gehört zum Raffiniertesten an Musik, das je für die Opernbühne geschrieben wurde. Die Vielschichtigkeit der Strauss-Partitur brachte mit dem Orchestre philharmonique du Luxembourg unter Stefan Soltesz ein Klangkörper brillant zum Ausdruck, der mit der Musiktradition von Richard Strauss eigentlich sehr wenig verwachsen ist. Der gebürtige Ungar Soltesz hingegen ist mit dieser Musik groß geworden. Er hat bei Hans Swarowsky an der Wiener Hochschule für Musik studiert und später Karl Böhm, Christoph von Dohnányi und Herbert von Karajan assistiert. Handwerklich souverän und mit tiefgründiger Analyse geht er an das Hommage-Werk an Mozart und nicht zuletzt an die Stadt Wien heran. So gelingt Soltesz am Pult des OPL ein Exempel an durchsichtiger, klarer Orchestergestaltung, und das trotz der mitunter für die Partitur etwas trockenen Akustik des Großen Theaters. Das Ergebnis ist eine lebendige Interpretation mit Feinschliff, Sensibilität und Klangmagie, bei der nichts an Witz und Frische verloren geht.
Die Théâtres de la Ville haben den Rosenkavalier im Rahmen einer großen Koproduk-tion mit der Flämischen Oper und dem Royal Opera House im Londoner Covent Garden ans Haus am Rond-Point Schuman gebracht. Dass bei den Aufführungen von letzter Woche große Oper zutage kam, lag allerdings in erster Linie an der subtilen Auslegung durch das Orchester und an der spannenden Gestaltung der gesanglichen Partien, weniger am Aushängeschild der Produktion, dem Opernregiedebütanten Christoph Waltz. Waltz, den das Fernsehpublikum seit Jahren als Charakterdarsteller in zahlreichen Krimiserien kennt und den die internationale Filmgemeinschaft spätestens seit Tarrantinos Inglorious Basterds zu Recht als begnadeten Schauspieler verehrt, ist ein bekennender Operngänger und ein Habitué der L.A. Opera. Aber das sind viele. Als Aviel Cahn, der Intendant der Flämischen Oper, einen unvoreingenommenen, vom Schauspiel kommenden Regisseur für die Neuproduktion suchte, kam der zweifache Oscar-Preisträger, zudem ein Wiener, ins Gespräch.
Natürlich ging die Rechnung auf: ausverkaufte Vorstellungen und ein Medienauflauf bei der Premiere, kurz vor Weihnachten, wie ihn die Antwerpener Oper noch nie zuvor erlebt hat. Der Rosenkavalier wurde zum Operndebüt des Jahres, lange bevor sich überhaupt der Vorhang hob. Hinter dem Vorhang allerdings zeigte sich, dass für man eine glaubhafte Inszenierung des Stücks viel mehr braucht als Schauspielerfahrung und Wurzeln an der Donau. Der Konversationsstil von Richard Strauss, die überaus vielschichtige Sprache von Hugo von Hofmannsthal konstruieren hinter der Fassade einer komödiantischen Farce fesselndes Musiktheater über Liebe, Sehnsucht, das Altern, vor allem aber über den Zerfall eines Gesellschaftsmodells. Davon kommt in Waltz’ Inszenierung reichlich wenig zum Ausdruck. Es gibt ein Palais und ein Bett, einen Tisch, eine Katze samt ein paar Hündchen und zwei Papageien im ersten Akt, verschiebbare Wände und recht geradlinigen Stuck an der Decke. Um diese Requisiten herum stehen die Sänger, singen, aber interagieren nicht, wie in einer Repertoire-Inszenierung, die zum 350. Mal gespielt wird. Personenregie ist anders. Die Otto-Schenk-Produktion der Wiener Staatsoper aus den Sechzigerjahren unterscheidet sich von Christoph Waltz’ Rosenkavalier nur dadurch, dass der Stuck verschnörkelter ist und die Inszenierung immer noch funktioniert.
Das aber stört die Sänger wenig. Die Besetzung ist bis in die zahlreichen kleineren Rollen durchgehend überzeugend. Camilla Nylund als Feldmarschallin, Stella Doufexis und ihr im dritten Akt am Bühnenrand zum Einsatz kommender Cover Michaela Seelinger als Octavian, Christiane Karg als Sophie und Albert Pesendorfer als Baron Ochs singen sich die Seele aus der Brust, betören mit unverwechselbarem Charisma und lassen die Zuschauer vergessen, dass alles noch spannender hätte sein können.