Am Ende entschied das höchste deutsche Gericht: Um das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ausüben zu können, braucht es keine Großbildleinwand um den Worten eines ausländischen Staatspräsidenten zu lauschen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ließ ob dieser Entscheidung mitteilen, dass in Deutschland das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit nicht garantiert sei. Es war eine der vielen Rangeleien zwischen Ankara und Berlin, die sofort weiter eskalierte: So stellte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu der Europäischen Union umgehend ein Ultimatum. Über die Frankfurter Allgemeine Zeitung ließ er mitteilen, dass die Türkei von der Flüchtlingsvereinbarung Abstand nehmen müsse, wenn es nicht bis Oktober zu einer Visafreiheit für türkische Bürger komme. „Es kann Anfang oder Mitte Oktober sein, aber wir erwarten ein festes Datum“, so der Außenminister.
Es ist ein Wechselspiel, das Erdogan gibt. Mal droht sein Berater, dass die Türkei demnächst Flüchtlinge in Richtung Europa losschicken könnte, dann möchte er Parlamentarier des Europaparlaments einschüchtern, von deren Zustimmung die Visafreiheit abhängt, dann beklagt sich Erdogan, dass sich die EU nicht an ihr Versprechen halte. Diese hatte die EU der Türkei im März im Zuge der Verhandlungen zum Flüchtlingsabkommen in Aussicht gestellt, aber immer an die Voraussetzung geknüpft, dass die Türkei sämtliche 72 Kriterien dafür erfülle. Weil Ankara davon weit entfernt ist, hat das EU-Parlament die Beratungen vorerst auf Eis gelegt. Die Parlamentarier in Straßburg stören sich vor allen Dingen an der türkischen Anti-Terror-Gesetzgebung und verlangen Änderungen. So soll sichergestellt werden, dass nicht unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung missliebige Oppositionelle und Journalisten verfolgt werden. Doch Erdogan lehnt eine Reform des entsprechenden Paragrafen ab und in Zeiten des Ausnahmezustands in der Türkei, der noch bis Oktober gilt, wird es kaum zu Änderungen kommen.
Eine Linie, auf die sich auch Deutschland zurückzieht: Ohne Erfüllung der 72 Kriterien, so Martin Schäfer, Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin, sei an Visafreiheit nicht zu denken. Doch irgendwie sitzt die Türkei am längeren Hebel, scheint es. Sie hat in der Flüchtlingskrise die Rolle des Türstehers übernommen – selbstredend gegen angemessene Bezahlung und weitere Zugeständnisse: Erdogan soll sicherstellen, dass Flüchtlinge gar nicht erst die Überfahrt über die Ägäis wagen. Die Vereinbarung zeigt Wirkung, denn bis Februar dieses Jahres machten sich durchschnittlich jeden Tag noch 2 000 Menschen auf den Weg von der Türkei nach Griechenland, dann über die Balkanroute weiter nach Mitteleuropa. Nachdem Flüchtlingsabkommen kamen zuletzt nur noch wenige Dutzend Migranten pro Tag auf den griechischen Inseln an.
Was aber genau geschehen wird, wenn Erdogan das Abkommen kündigt, lässt sich nur schwer voraussagen. Ein Scheitern des Abkommens wäre vor allen Dingen eine Niederlage für Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich für den Deal mit der Türkei stark gemacht hat. Innenpolitisch kann sie die Aufkündigung aussitzen, solange die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge so niedrig bleibt wie bisher.
Doch – ob die Balkanroute geschlossen ist oder nicht –, nach dem Scheitern des Abkommens mit der Türkei würden wieder deutlich mehr Flüchtlinge den Weg über die Ägäis wagen. In Griechenland angekommen, können sie dann nicht mehr in die Türkei zurückgeschickt werden. Gerald Knaus, Leiter des Thinktanks Europäische Stabilitätsinitiative (ESI), Berater der Bundesregierung und in der Position an der Ausgestaltung des Vertrags mit Ankara beteiligt, malte in der Wochenzeitung Die Zeit ein düsteres Bild: „Manche in der EU hoffen wohl, dass die Menschen in Griechenland so schlechte Bedingungen vorfinden, dass das als Abschreckung reicht.“
Schon heute hätten die über 46 000 Flüchtlinge dort praktisch keine Chance, einen Asylantrag zu stellen. „In den vergangenen Monaten hat die griechische Polizei dabei geholfen, die Grenze zu Mazedonien geschlossen zu halten.“ Damit dürfte es dann, wenn sich die Geflüchteten in Griechenland sammelten, vorbei sein, so seine Einschätzung. Es gebe bereits einen Plan B. „Zäune überall und möglichst schlechte Bedingungen für Flüchtlinge, die dann keine rechtliche Chance mehr haben einen Asylantrag zu stellen, sondern schon vorher wieder ausgewiesen werden.“ Zu Lasten Griechenlands, dass dann eine Art der EU vorgelagerte Insel würde, „so wie Nauru, wo Australien seit Jahren ankommende Flüchtlinge einsperrt.“ Sie werden dort unter schlechten Bedingungen festgehalten, kommen nicht weiter, werden aber auch nicht zurückgeschickt. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz hat bereits angekündigt, dass man von diesem australischen Modell lernen könne.