Jahrelang haben sie in Brüssel gerungen, dieses Jahr soll er kommen: Vor einem Jahr starteten die Trilog-Verhandlungen zwischen Europäischer Kommission, Europaparlament und Europarat zum European Accessibility Act, zu deutsch Europäisches Barrierefreiheitsgesetz, im April 2019 soll über den Richtlinienentwurf abgestimmt werden. Der EAA formuliert konkrete Anforderungen zur Barrierefreiheit für Güter und Dienstleistungen aus der Privatwirtschaft. In den nächsten Jahren müssen unter anderem Fernseher, Telefonanlagen, Bankautomaten und Lesegeräte für E-Books sowie mobile Bezahlsysteme und alle Internetseiten des Online-Handels barrierefrei werden. Auch Ausschreibungen und Förderprogramme für diese Programme sollen für Menschen mit Behinderungen zugänglich werden. Außerdem müssen Notrufdienste barrierefrei gestaltet werden.
Damit würde ein Grundprinzip, der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen auch für die geschätzten rund 80 Millionen behinderte Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union ein stückweit mehr Realität. Mit dem Kauf von Reisen beim Online-Händler, Internet-Hotelbuchungen, dem Kauf von Fahrkarten oder dem mobilen Erledigen der Bankgeschäfte sind nämlich für viele Behinderte unüberwindbare Hürden verbunden: Immer mehr Automaten funktionieren mit Touchscreen ohne Sprachführung, die ansagt, was auf dem Bildschirm zu sehen ist, und können daher von blinden Menschen nicht ohne Weiteres bedient werden. Oft sind mobile Anwendungen und Terminals zu kompliziert zu bedienen, weil die Anweisungen zudem schwer verständlich sind. Behindertenorganisationen wie der Europäische Blindenverband begrüßen daher den europäischen Vorstoß zur gesetzlich geregelten Barrierefreiheit.
Allerdings ist die Freude nicht ungeteilt, denn der EAA beschränkt sich auf die digitale Welt; die analoge Welt ist davon nicht erfasst, respektive es bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, die gebaute Umwelt einzubeziehen – wenn sie dies wollen. Das Europaparlament hatte sich vergebens für die Ausdehnung eingesetzt. Entsprechend enttäuscht fiel die Reaktion des Europäischen Behindertenforums aus: Der Kompromiss schließe die reale Umgebung aus, in der Menschen den Löwenanteil ihrer Zeit verbringen. „Die EU-Mitgliedstaaten haben ihre behinderten Mitbürger in Stich gelassen. Es erscheint mehr wie eine Europäische Union der Unternehmer denn eine Europäische Union der Menschen“, bemängelte Yannis Vardakastanis, Präsident des Forums, im November.
Der jetzt diskutierte Vorschlag zum Europäischen Barrierefreiheitsgesetz umfasst Computer-Hardware und Betriebssysteme, Geldautomaten, Fahrkartenautomaten, Telefone und Smartphones, Fernseher, Online-Shopping- und -Banking-Dienste, E-Books und Webseiten von Verkehrsunternehmen. Er enthält aber keine Anforderungen beispielsweise an die bauliche Umwelt, an den öffentlichen Nah- und Fernverkehr, Kernforderung der Behindertenverbände, oder den Tourismus. Millionen EU-Bürger würden demnach weiterhin nur mit Mühen ihr Haus verlasen können, bemängelte das Europäische Behindertenforum. Auch in der digitalen Welt erfasst der Entwurf längst nicht alles, zum Beispiel keine Bezahlterminals und keine digitale Anwendungen im Haushalt, etwa digital gesteuerte Waschmaschinen oder Mikrowellen.
Und auch wenn das EEA prinzipiell sämtliche Wirtschaftsteilnehmer an der Handels-, Zulieferungs- und Verarbeitungskette von Waren und Dienstleistungen einschließt, Hersteller geradeso wie Importeure und Groß- und Einzelhändler, gewährt das Gesetz einige Ausnahmen, die es Herstellern und Anbietern von Dienstleistungen ermöglichen, sich aus der Verantwortung zu ziehen, ihre Produkte barrierefrei zu machen. Das befürchten jedenfalls Behindertenverbände. So können Klein- und Mittelunternehmen sich der Verordnung mit Verweis auf eine unverhältnismäßige Belastung entziehen, ähnlich wie die Ausnahmeregelung in Cahens geplanter Reform des Barrierefreiheitsgesetzes. Und damit argumentieren, dass geschätzte Kosten und erwartbarer Nutzen nicht in einem akzeptablen Verhältnis stünden. Die Bewertung, ob die Einhaltung von Mindeststandards zur Barrierefreiheit eine unverhältnismäßige Belastung darstellt, obliegt dem Wirtschaftsteilnehmer selbst, der die jeweilige Behörde mit EU-Mitgliedstaat informieren muss, in dem Produkt oder Dienstleistung eingeführt werden. Kleinstunternehmen sind komplett vom EAA ausgenommen. Gerade der Ausschluss von Mikro-Unternehmen jedoch könnte bedeuten, dass viele Anwendungen, wie E-Books für Sehbehinderte, unzugänglich bleiben, da E-Book-Verlage meist kleinere Marktnischen besetzen.