„Wir haben ganz viele Frauen, die beim Mann bleiben müssen, weil sie nichts anderes haben, wohl wissend, dass das eine gefährliche Situation ist, die jederzeit umschlagen kann.“ Mit drastischen Worten beschreibt Andrée Birnbaum die Folgen, die die Wohnungsnot hierzulande für eine besonders verletzliche Gruppe hat: Frauen, die in gewalttätigen Beziehungen leben. Der Verein, dem sie als Direktorin vorsteht, Femmes en détresse, ist Anlaufstelle und Zufluchtsort für sie. Hier können Frauen, die Schutz vor ihrem gewalttätigen, aggressiven Partner suchen, unterkommen. Im Prinzip.
Denn das wird zunehmend schwieriger. Die anhaltende Wohnungsnot setzt besonders den Schwächsten unter den Schwachen zu. „Wir haben immer öfters Frauen, die länger bei uns bleiben, weil sie keine Wohnung finden.“ Ein Fall ist ihr besonders in Erinnerung geblieben: So lebte eine Frau acht Jahre im Frauenhaus, obwohl sie nach anfänglicher Betreuung bereit war, auf eigenen Füßen zu stehen. Nur fand sie nichts Bezahlbares auf dem freien Wohnungsmarkt.
Auch der Fonds du Logement kann oft nicht helfen: Auf der Warteliste der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft stehen 3 000 bedürftige Personen. „Weil sie von uns betreut werden, zählt der Fonds diese Fälle nicht zu den dringenden“, erklärt Birnbaum den Teufelskreis, in dem sich die Frauen befinden. Mit der Folge, dass sie viel länger in den betreuten Strukturen bleiben, als vorgesehen. Eigentlich ist die Zuflucht im Frauenhaus für maximal drei Jahre gedacht.
Für ganz dringende Fälle, in denen für eine Frau Lebensgefahr besteht und sie deshalb unverzüglich von daheim fort muss, hat der Verein vor zwei Jahren die Maison d’urgence gegründet. Wie schlimm die Gefahrenlage ist, bestimmen geschulte Mitarbeiterinnen anhand eines Notfallplans. Das Notfallhaus bietet elf Frauen und Kindern Unterschlupf, dort stehen neun Dreibettzimmer zur Verfügung. Ist die größte, unmittelbare Gefahr vorbei, werden die Frauen in das betreute Wohnprogramm in einem der Frauenhäuser aufgenommen, wo sie von Sozialarbeiterinnen unterstützt werden. Oft müssen sich die Frauen erst fangen und neu orientieren. Ehefrauen haben wegen der Kinder beruflich zurückgesteckt oder die Erwerbsarbeit ganz aufgegeben. Es gilt, Angst und Trauma zu überwinden und nach der Trennung vom gewalttätigen (Ex-)Partner Zukunftspläne zu entwickeln. 422 Frauen und Kinder betreut Femmes en détresse.
Mit Hilfe der Sozialarbeiterinnen rappeln sich viele wieder auf, manche gehen zurück zum Partner, weil sie keine Perspektive sehen oder sich aus dem Teufelskreis von Gewalt und Pseudofrieden nicht befreien können. Anderen gelingt es nach einiger Zeit, sich zu stabilisieren. Dann, spätestens aber nach drei Jahren, sollen diese Frauen idealerweise eine Wohnung auf dem freien Markt finden : „Das Problem ist, dass viele Frauen alleinerziehend sind und gar nicht das Geld haben, um sich eine Wohnung zu leisten.“ Sogar wer eine Arbeit hat, ist damit nicht unbedingt auf der gewonnenen Seite. „Ich weiß von einer Mutter mit einem Monatseinkommen von 3 000 Euro, die seit Monaten sucht und nichts findet“, sagt Birnbaum und fügt hinzu: „Das hat es früher nicht gegeben.“
Davon, dass es immer schwieriger wird, für ohnehin benachteiligte Personen bezahlbaren Wohnraum zu finden, weiß auch Gilles Hempel ein Lied zu singen. Der Soziologe gründete 2009 mit anderen die Agence immobilière sociale (AIS) als Antwort auf die Wohnungsnott und kennt die Entwicklung des Markts daher gut. „Als wir gestartet sind, war es nicht so schwer wie heute, eine Wohnung auf dem freien Markt zu bekommen. Heute steigen die Einkommen nicht so schnell wie die Mieten.“ Durchschnittlich stiegen die Wohnungspreise seit 2010 um 4,7 Prozent pro Jahr, das meldet das Observatoire de l’habitat.
Die AIS vermietet Privatwohnungen an Menschen weiter, die auf dem freien Mietmarkt keine Chance haben und keine Sozialwohnung finden. Ihr Konzept ist so simpel wie erfolgreich: Wohnungsbesitzer, die nicht selbst vermieten wollen, können ihre Wohnung der Agentur melden. Sie schließt mit ihnen einen Vertrag ab, bürgt für die pünktliche Zahlung der Miete und sorgt überdies dafür, dass der Zustand der Wohnung picobello bleibt. Fällt eine Renovierung an, kümmern sich Arbeiter der AIS darum. Will der Besitzer die Wohnung eines Tages zurück, bekommt er sie – nach einer Mindestvertragslaufzeit von drei Jahren. Die Höhe der Miete richtet sich nach dem Einkommen und wird zwischen AIS und Mieter individuell vereinbart. Maximal ein Drittel des monatlich verfügbaren Nettoeinkommens darf sie betragen, höher als zehn Euro pro Quadratmeter kann die Miete nicht sein.
Auch mit Femmes en détresse arbeitet die AIS zusammen und hat Wohnungen an bedürftige Frauen aus den Frauenhäusern vermietet. Sofern Femmes en détresse sie betreuen kann. Denn das Betreuungspersonal muss der Verein selbst stellen. Und das ist nicht einfach: „Wir bräuchten mindestens drei Vollzeitstellen, um den Bedarf zu decken“, sagt Birnbaum. Derzeit betreut eine Halbtagsstelle 14 Haushalte, die außerhalb der Frauenhäuser untergekommen sind.
Der große Bedarf an Wohnraum für sozial Schwache lässt sich an wenigen Eckdaten ablesen: Gestartet mit drei Mitarbeitern, beschäftigt die AIS heutzutage 34 Personen. Inzwischen verwaltet sie 522 Wohnungen, in denen 497 Haushalte leben, darunter viele Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose und Revis-Bezieher und andere die, deren Leben aufgrund von Scheidung, Arbeitslosigkeit oder anderen Problemen aus den Fugen geraten ist. Hempel beschreibt die Mission seiner Stiftung mit „soziale Inklusion erlangen durch Wohnraum“: Menschen in Not bekommen während drei Jahren bezahlbaren Wohnraum und erhalten parallel Unterstützung von Sozialarbeitern, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Doch obschon das Modell sich bewährt hat, stößt auch die AIS an ihre Grenzen und kann nicht verhindern, dass immer mehr Menschen riskieren, ökonomisch und sozial abgehängt zu werden. Jeder zehnte Haushalt in Luxemburg muss mehr als 40 Prozent seines Einkommens für die Unterkunft aufbringen; ihnen bleibt immer weniger zum Leben. Die AIS hat deshalb begonnen, ein zweites Standbein einzurichten: Sie baut zunehmend selbst Wohnungen. „Dann können wir Menschen, die keine sozialpädagogische Begleitung mehr brauchen, aber auf dem freien Wohnungsmarkt nichts finden, dorthin herübernehmen“, sagt Hempel.
Eine anderes Projekt, das die AIS derzeit verschiedenen Gemeinden vorstellt, sind die Modulhäuser, die die Agentur in so genannten Baulücken aufstellen will: Das brach liegende Bauland würde vom Eigentümer über eine gewisse Zeit gepachtet und darauf leicht auf- und wieder abbaubare Modulhäuser aufgestellt. Das architektonische Konzept steht bereits; jetzt reist Hempel durchs Land, um Unterstützer für das Projekt zu finden.
Er ist „guter Dinge“, dass mit der Dreierkoalition Bewegung in die Wohnungspolitik komme, so Hempel: Die Arbeitsatmosphäre eines ersten Treffens mit Beamten des neu besetzten Wohnungsbauministeriums sei sehr gut gewesen. „Es war ein Ideenaustausch, fast wie in Form eines Workshops“, sagt er über die Zusammenkunft, die über einen Vormittag gedauert haben soll. Regierungsrat Mike Mathias bestätigte auf Land-Nachfrage das Treffen mit der AIS und weiteren Akteuren, wollte aber weder den konkreten Tag noch die Dauer der Zusammenkunft sagen.
Ein anderes Wohnungsproblem harrt ebenfalls seiner Lösung – obschon auch dort ein Konzept vorliegt. Dass der grüne Justizminister Félix Braz mit seiner Strafvollzugsreform die Resozialisierungschancen von Insassen der Strafvollzugsanstalten in Givenich und Schrassig verbessern will, ist beschlossene Sache. Dafür soll die Sozialarbeit hinter den Mauern professioneller werden, die Gefangenen sollen systematischer auf ihre Entlassung vorbereitet werden. Was aber dann? Es fehlt an Wohnraum für ehemalige Haftinsassen. Die Rückkehr in ein normales Leben mit Beschäftigung ist für sie besonders schwierig: Viele haben keine abgeschlossene Ausbildung, sind drogenabhängig oder stammen aus sozialen Milieus, von denen sie sich schwer lösen können. Oft bleibt ein Stigma nach der Haft zurück, obschon sie ihre Strafe abgesessen haben. Wer keine Freunde oder Familie hat, bei denen er oder sie nach der Entlassung unterkommen können, dem bleibt oft nur das Obdachlosenasyl.
Um ihre Perspektiven zu verbessern, plant die Caritas Übergangshäuser, in denen Ex-Gefangene, aber auch Freigänger mit Bewährungsauflagen wohnen können und wo sie betreut würden. „Das können wir nicht alleine leisten. Deshalb ist es wichtig, die Bewährungshilfe, Suchthilfe und andere Hilfsorganisationen im Boot zu haben“, betontAndreas Vogt, Direktor von Caritas Accueil et Solidarité. So gesehen, wäre das die Fortsetzung der Resozialisierung, die im Gefängnis begonnen hat: Je nachdem, ob der/die Entlassene Unterstützung von der Suchthilfe, bei der Aus- und Weiterbildung oder Jobsuche benötigt, würde ihm/ihr ein Netzwerk mit spezialisierten Hilfsdiensten zur Seite stehen.
„Wir wollen mit dem Konzept Obdachlosigkeit verhindern helfen“, beschreibt Vogt das Ziel der Übergangshäuser. Parallel soll das auf zunächst zwei Jahren angesetzte Pilotprojekt wissenschaftlich begleitet werden. Es wäre das erste Mal, dass umfassende Informationen über (Ex-)Häftlinge und ihre Resozialisierung gesammelt würden. Damit das Projekt gelingt, müssen Dienste, die zum Teil unterschiedlichen Ministerien unterstehen, besser zusammenarbeiten. Wie schwierig das Unterfangen ist, zeigt sich daran, dass, obwohl das Projekt auf breite Zustimmung im Sektor stößt und bereits im vergangenen Frühjahr vorstellt wurde, das Familienministerium, das für den Kampf gegen Wohnungslosigkeit zuständig ist, auf das Justizministerium verweist. Letzteres teilt auf Anfrage mit, am Projekt werde gearbeitet und es sei „noch zu früh, auf Fragen zur Finanzierung zu antworten“.