Wer über den Campus der Universität Belval läuft, sieht lauter Spiegelungen: Die Fensterfront der beiden hohen Türme spiegelt die Sonnenstrahlen, die sich zudem in kleinen, neben schwarzen Gehwegplatten eingelassenen Wasserbecken brechen. Das kann man schön finden, für Leute mit Sehbehinderungen sind die Becken richtig gefährlich. Nicht nur die Becken sind für Blinde ein Ärgernis. Auch der Lift, der ohne Braille-Schrift sondern mit Touchscreen auskommt, ebenso wie die dreibeinigen Untertassen-Lampen, die rund um die Maison du Savoir in einem Winkel stehen, dass sich Sehbehinderte erst den Kopf stoßen, bevor sie den Pfahl mit dem Gehstock ertasten, sind es.
„Wie konnte jemand für diese Anlage überhaupt eine Betriebserlaubnis erteilen“, fragt Arthur Limbach-Reich entsetzt. Der Professor für Sozialwissenschaften ist Behindertenbeauftragter der Uni Luxemburg gewesen. Ob er es noch ist, weiß er selbst nicht sicher: Seitdem das neue Universitätsgesetz verabschiedet wurde, soll eine Inklusionskommission sich der Belange von Menschen mit Behinderungen annehmen. Ob sie das tut und getagt hat, weiß Limbach-Reich nicht: „Mich hat bis heute niemand deshalb kontaktiert.“
Wen(n) der Staat behindert
Die Universität ist nicht das einzige öffentliche Gebäude, das für Menschen mit Behinderungen zu einem regelrechten Hindernislauf wird: Wer das Zentrum fir politesch Bildung in Walferdingen auf dem Campus Edupôle mit dem Rollstuhl besuchen will, kommt nicht weit. Die oberen Räume unterm Dachgeschoss sind nicht mit dem Rollstuhl zugänglich. Das Team um Marc Schoentgen und Michelle Schilt empfängt Menschen mit Behinderungen daher in der Bibliothek im zweiten Stock. Sofern der Fahrstuhl funktioniert, was derzeit nicht der Fall ist. „Wir sind uns der Problematik bewusst und würden zudem gerne näher beim Stadtzentrum sein, weil sich unser Angebot an die gesamte Bevölkerung richtet“, sagt ZpB-Vizedirektorin Michelle Schilt.
Im Casino, Forum für zeitgenössische Kunst, musste das Personal mehrfach darauf hinweisen, dass der Zugang zu den Ausstellungsräumen wegen der hohen Eingangstreppe für Rollstuhlfahrende und ältere Menschen nicht ohne fremde Hilfe zu bewerkstelligen ist, bevor ein Fahrstuhl bewilligt wurde. Der eingeschränkte Zugang führte sogar dazu, dass er bei der Agenda-Planung bedacht werden muss: Bestimmte Ateliers können nur stattfinden, wenn genügend Personal da ist, das Älteren, Behinderten und Familien mit Kinderwagen beim Treppenaufgang hilft.
Dabei ist die Autonomie ein Kerngedanke der 2007 auch von Luxemburg ratifizierten Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen: Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen sollen so selbstständig wie möglich als vollwertiges, anerkanntes Mitglied in der Gesellschaft leben und an ihr teilhaben. Artikel neun der UN-Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten dazu, Maßnahmen zu ergreifen, die den ungehinderten Zugang zu öffentlichen Plätzen, zum öffentlichen Transport und zu anderen Dienstleistungen gewährleisten. So wie gesunden Menschen auch.
Luxemburg bekam ein erstes Barrierefreiheitsgesetz 2001. Es verpflichtete Ministerien, öffentliche Verwaltungen, Gemeinden und öffentliche Einrichtungen dazu, bei allen Neubauten und Renovierungen so vorzugehen, dass Menschen mit Behinderungen gleichermaßen Zugang finden. 18 Jahre später stellt die zuständige Ministerin allerdings nüchtern im Motivenbericht zu ihrer Reform fest, „malgré les efforts menés au cours des dernières années, force est de constater que pour bon nombre de personnes, la réalité ne rejoint pas encore les idéaux“.
Richtschnur: Design für alle
Dass Behinderte in ihrer Bewegungsfreiheit rasch an Grenzen stoßen, weiß jede/r, der/die einmal an einer Erkundungstour teilgenommen hat, um die Welt aus dem Blickwinkel einer Person im Rollstuhl oder ohne Augenlicht zu erfahren: Zwar gibt es mehr öffentliche Gebäude, die eine Rampe für Rollstühle haben oder Fahrstühle mit Sprechfunktion oder Hinweisschilder in Braille-Schrift. Aber die Regel ist das nicht. Das Komitee der Rechte für Behinderten stellte 2017 in seinem Bericht zur Lage von Behinderten in Luxemburg fest, dass die Hindernisse, die sie im Alltag erfahren, vielfältig sind: Die Liste reicht von staatlichen Gebäuden, die nicht behindertengerecht sind, über eine nicht-inklusive Bildung, die behinderte Kinder in Sonderklassen belässt, weil geschultes Lehrpersonal fehlt, oder die Anpassungen erschwert, obwohl ein Schüler vielleicht aufgrund eines Handicaps mehr Zeit braucht, um dieselbe Aufgabe zu lösen, bis hin zu Webseiten, die keine Hörfassungen für Menschen mit Sehbehinderungen vorsehen.
Die Regierung von DP, LSAP, Grünen plant deshalb seit längerem eine umfassende Reform des Barrierefreiheitsgesetzes; die zuständige Familienministerin Corinne Cahen (DP) legte im Herbst vergangenen Jahres dem Parlament einen Entwurf vor. Die Änderungen, die der Vorschlag vorsieht, sind weitreichend und, gemessen an der Behindertenpolitik ihrer VorgängerInnen, ehrgeizig: So soll der Anwendungsbereich der Barrierefreiheit neben öffentlichen erstmals auch auf öffentlich zugängliche private Gebäude ausgedehnt werden. Begründet wird die Erweiterung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz und dem Diskriminierungsverbot, aber auch mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung. In Luxemburg sind geschätzte 19 Prozent der Bevölkerung auf Hilfsdienste angewiesen.
Das Ziel der Regierung ist klar: Künftig sollen mehr öffentliche Orte zugänglich werden, neben Verwaltungen Restaurants, Geschäfte, Apotheken, Krankenhäuser, Busse, Kinos und Bars – im Prinzip alle öffentlichen baulichen Anlagen und Verkehrsmittel. Dafür werden Mindeststandards für den Bau neuer Gebäude (re-)formuliert. Eigentümer von öffentlich zugänglichen Gebäuden, die nicht behindertengerecht sind, sollen bis 2029 Zeit bekommen, um die Anlage regelkonform umzubauen.
Richtschnur soll dabei das Design für alle sein: Die Umgebung soll so gestaltet werden, dass sie von allen genutzt werden kann, seien sie gesund, blind, sehbehindert, hörgeschädigt oder gebrechlich aufgrund von Alter und Demenz. Dafür sollen Bauträger, die öffentlich zugängliche Gebäude planen, ob privat oder öffentlich, ein Label erwerben müssen, das ihnen Barrierefreiheit bescheinigt. Ein beratendes Komitee der Barrierefreiheit, in der Behindertenverbände vertreten sind, soll im Zweifelsfall angehört werden. Bestehende Gebäude müssen nachgerüstet werden. In besonderen Fällen, etwa wenn ein Bau unter Denkmalschutz steht, technische Lösungen nicht möglich sind oder der behindertengerechte Umbau eine zu hohe Belastung darstellt, können Ausnahmen bewilligt werden. Die Ausnahmeregelung wird von Behindertenverbänden allerdings kritisiert: Die Sorge, dass sich Bauherren und -träger mit Verweis auf eine zu hohe Belastung aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung davonstehlen könnten, ist groß.
Nicht geregelt ist indes, was geschieht, ist die Genehmigung erst einmal erteilt: Wer kontrolliert nach, ob die Vorkehrungen funktionieren und nicht klammheimlich, um Kosten zu sparen, abgeschaltet werden, fragt die Menschenrechtskommission in ihrem diese Woche veröffentlichten Gutachten. Info Handicap-Leiter Olivier Grüneisen, dessen Organisation die Reform grundsätzlich begrüßt, kritisiert zudem die Zusammensetzung des beratenden Komitees: Darin sitzen zwar Vertreter der Behindertenverbände, doch das Stimmenverhältnis ist nicht paritätisch.
Es gibt weitere Lücken, die der Entwurf nicht abdeckt oder wo er unklar bleibt. So ist der Arbeitsplatz von der Verpflichtung zur generellen Barrierefreiheit ausgenommen, obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention die Vertragsstaaten ausdrücklich dazu verpflichtet, auch diesen barrierefrei zu gestalten. Das bedeutet, behinderte Beschäftigte müssten Umbauten oder Umrüstungen, die sie benötigen, um ihrer Arbeit nachzugehen, weiterhin beantragen, gegebenenfalls sogar mühsam einzeln einklagen, anstatt dass die Regierung Arbeitgeber dazu verpflichtet, Arbeitsplätze im Sinne des Design for all-Prinzips von vornherein barrierefrei zu gestalten.
Strafen bei Nichteinhaltung
Positiv bewerten Behindertenorganisationen wie Info Handicap, dass der private Wohnungsbau vom Gesetz ebenfalls erfasst werden soll: Künftig soll eine von zehn Wohnungen barrierefrei gebaut werden, für bereits gebaute Wohnungen gilt die Regel aber nicht. Zehn Prozent seien angesichts des steigenden Bedarfs an behindertengerechten Wohnungen nicht ausreichend, bemängelt die Menschenrechtskommission.*
Für Diskussionen dürfte noch eine Neuerung sorgen: Private Eigentümer und Bauherren müssen ebenfalls Mindeststandards der Barrierefreiheit erfüllen. In Luxemburg, wo das Privateigentum einen hohen Stellenwert genießt, ist diese Verpflichtung, von einer liberalen Ministerin vorgeschlagen, heikel. Die Handelskammer moniert in ihrem Gutachten erhebliche „Rechtsunsicherheiten“, sieht die Vertragsfreiheit gefährdet und findet Unterstützung beim Staatsrat, der ebenfalls vor Rechtsunsicherheiten wegen unklarer Begrifflichkeiten und Kriterien warnt und nicht weniger als 15 Einwände gegen den Entwurf vorbringt.
Verfassungsrechtlich bedenklich sei zudem die neue Strafregelung. Architekten, Bauherren und -firmen, die die baulichen Barrierefreiheitsanforderungen grundlos missachten, sowie Eigentümer, die ihre Gebäude nicht fristgerecht umbauen und keine Entschuldigung für die Verzögerung haben, müssen mit hohen Strafen rechnen (bis 125 000 oder 250 000 Euro und/oder Gefängnishaft von acht Tagen bis zwei Monaten) – wobei, so die Kritik des Staatsrats, nicht klar geregelt sei, welche Einspruchsmöglichkeiten vorgesehen sind und wie Verstöße gegen die Auflagen kontrolliert würden. Wenn allerdings selbst die Uni Auflagen zur Bewegungsfreiheit nicht erfüllt, trotz Beschwerden und aktuellem Barrierefreiheitsgesetz, ist fraglich, ob es denn ohne Androhung von Strafen geht.
Medien ausgenommen
Die Reform von Corinne Cahen beschränkt sich aber nicht auf die reale Welt, sondern greift in einem Reglement zusätzlich eine Entwicklung auf, die in Brüssel seit über zehn Jahren diskutiert und über die sich erst kürzlich geeinigt wurde: Auch die virtuelle Welt soll zugänglicher werden. Öffentliche Stellen sollen verpflichtet sein, ihre Webseiten und Dienstleistungen, etwa wenn es um Formulare für Behördengänge geht, so zu organisieren, dass auch Blinde oder Gehörlose sie nutzen können, sei es in Form von Video-Tutorials, Braille-Schrift oder vereinfachten Inhalten. Ein Fortschritt, den Behindertenverbände begrüßen, der ihnen aber nicht weit genug geht. Denn Medien sind von der Verpflichtung ausgenommen, ihre Informationen für alle online zugänglich und verständlich zu machen. Auch im EU-Richtlinienentwurf sind sie nicht enthalten, wohl um nicht in die Pressefreiheit und Meinungsvielfalt einzugreifen; der Erhalt von Meinungs- und Medienvielfalt im überschaubaren Luxemburg ist ein delikates Unterfangen: Nachrichten barrierefrei zu präsentieren, hieße, Analysen in leichter Sprache zu übersetzen oder Übersetzungen in Gebärdensprache vorzusehen, kostet. Kleinere Medien könnten sich schwer tun. Die Menschenrechtskommission schlägt in ihrem Gutachten daher vor, der Staat möge finanzielle Anreize schaffen, damit kleine Medien sich bei der Aufgabe nicht verheben.
Kommen öffentliche Stellen ihrer Verpflichtung zur Barrierefreiheit nicht nach, sollen sich Betroffene künftig beschweren können. Über den Informationszugang wachen soll der staatliche Informationsdienst SIP, obwohl er, das bemängelt die Menschenrechtskommission, keine besondere Kompetenz in dem Bereich vorzuweisen hat und seine Online-Informationsangebote teilweise selbst nicht unbedingt vorbildlich inklusiv gestaltet sind, wie etwa die hinter einer passwortgeschützten virtuellen Mauer abgelegten Informationen über ministerielle Pressekonferenzen zeigen. Sie sind akkreditierten Journalisten vorbehalten.