Es lohnt sich dieser Tage, noch einmal die Reportagen von Anna Politkowskaja zu lesen. Wie Putin auf der Begeisterungswelle des zweiten Tschetschenienkrieges erstmals an die Macht kam. Wie die Anschläge, die den zweiten Krieg begründeten, möglicherweise vom russischen Geheimdienst ausgeführt wurden, mit hunderten toten Russen. Wie Putin jede Grausamkeit in Tschetschenien hinnahm und wie die tapfere Journalistin am Ende sterben musste.
Putin ist niemand, der Russland auf breiter Front modernisiert. Ideologisch hat er Russland über einen Umweg über die orthodoxe Kirche wieder auf eine Ebene gebracht, die nahtlos an den Stalinismus anknüpfen kann, ohne ihn plump zu kopieren. In Russland hat Putin zielstrebig eine DDR 2.0 errichtet, eine gelenkte Demokratie mit Blockparteien. Schon in seiner zweiten Amtszeit als Präsident schrieb die amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs, dass sich Russland nicht wegen Putin entwickele, sondern trotz ihm.
Russland kann sein Territorium nicht wirklich beherrschen. Es fehlen die Menschen, um die Weite zu füllen. In einigen Landkreisen, ja sogar in ganzen Regionen arbeiten Mafiosi, Verwaltung, Polizei und Justiz Hand in Hand zum Schaden der Bürger. Neunzig Prozent der Einwohner leben westlich des Urals. Alkoholexzesse verkürzen das Leben der Männer. Das Land erlebt mit der niedrigsten Geburtenrate und der kürzesten Lebensdauer in Europa eine demografische Krise. Männer werden im Durchschnitt nicht einmal sechzig Jahre alt. Frauen etwas mehr als siebzig. Im Osten erlebt das Land eine stetige chinesische Einwanderung, die seine Vormachtstellung in Sibirien langfristig nur unterhöhlen kann. 1999 lagen die Wachstumsraten zwischen fünf und acht Prozent mit Ausnahme von 2009, in den letzten beiden Jahren lagen sie unter vier Prozent, dieses Jahr wird Nullwachstum oder gar ein Rückgang erwartet. Im internationalen Vergleich liegt die russische Wirtschaft mittlerweile an siebter Stelle.
Russland ist eingekreist. Diese Vorstellung ist trotz der Ausdehnung des Landes weit verbreitet. Der Eindruck ist durchaus real. Im Osten liegen der Ural und die leeren Weiten Sibiriens, im Norden das Eismeer, auch wenn es langsam auftaut, im Süden ein Riegel von islamischen Ländern. Nur der Westen steht offen. Theoretisch. Im Westen verfügt Russland lediglich über zwei Zugänge zu zwei kleineren Meeren, einen an der Ostsee, einen am Schwarzen Meer. Die Zeit, als diese Zugänge der Motor für Entwicklung sein konnten, ist lange vorbei. Der einzige Weg, der dem Land offensteht, führt nach Westen. Noch immer ist es der Weg Peters des Großen, der Russlands Schätze heben kann. Doch Putin will die Medizin nicht schlucken, die man nehmen muss, will man diesen Weg in Partnerschaft gehen. Das Zauberwort heißt Demokratie. Russlands Problem ist es, dass weite Teile von Führung und Volk die Demokratie ablehnen. Ein demokratisches Russland hat es nicht nötig Länder zu überfallen, Putin schon. Es ist widersinnig, dass die russische Elite das Land ideologisch von Europa abschottet, nur um es besser ausplündern zu können. Und dumm, wenn man sich für den Nabel der Welt hält, wo man doch noch immer nichts anderes betreibt als wirtschaftlich nachzuholen, was Jahrzehnte versäumt wurde.
Es wird dieser Tage viel über das Erpressungspotenzial von Gas geredet. Hier wird nichts so heiß gegessen wie gekocht. Langfristig muss sich Europa von Russland unabhängiger machen und seine Energieimporte auf 25 Prozent zurückfahren. Dazu gibt es Wege, die offenstehen. Das russische Erpressungspotential wirkt allenfalls mittelfristig, kurzfristig können Engpässe überbrückt werden, mittelfristig ist das schwieriger. Dennoch: Breite europäische Investitionen in Russland wären eine willkommene Entwicklung für den europäischen wirtschaftlichen Aufschwung. Putin hat das schon schlechte Investitionsklima mit seinen Interventionen weiter massiv beschädigt.
Was dem Westen fehlt, ist eine die russische Oper konterkarierende Propaganda. Wenn sich die Russen eingekreist fühlen, dann sollte die EU genau an diesem Gefühl anknüpfen und seine Grenzen für die normalen Russen öffnen. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, die Visapflicht aufzuheben, damit jeder, der es will, sich den Westen selber ansehen kann. Putin fürchtet nichts mehr, als eine Bevölkerung, die gewahr wird, dass man auch anders regiert werden kann. Der Westen braucht Selbstbewusstsein, keine Angst! Die Europäische Union hat eine Menge zu bieten. In Kiew sind Menschen für europäische Werte gestorben. Der Westen sollte die Arme für die Russen weit öffnen und die Grenzen für Putin und seine Gesinnungsgenossen fest verschließen.
Putins Stärke beruht letztlich nicht auf den Energiereserven Russlands, sondern auf seinen Atomwaffen. Die machen das Land, das niemand angreifen will, unangreifbar. Sie sind zugleich eine große finanzielle Bürde. Die Kosten für die allgemeine Aufrüstung, für die Krim und die Destabilisierung der Ukraine kommen hinzu. Die höchsten Öl- und Gaspreise scheinen der Vergangenheit anzugehören. Erst wenn sich Russland der Demokratie öffnet, kann das Land zum Partner werden. Diese Entwicklung muss die EU stärker unterstützen und lautstark einfordern. Offensiv. Mit langem Atem. Wie bei der Ukraine. Verweigert Putins Russland die Partnerschaft, wird es weiter auf dem Weg Breschnews vorangehen. Der hat bekanntlich die Sowjetunion abgewirtschaftet. Geschichte wiederholt sich nicht. Es sei denn als Farce.