Brüssel, Hauptstadt Europas, das Herz der Union. Von vielen Europäern wird die Stadt als ein Raumschiff gesehen, das abgehoben über den Problemen der Gemeinschaft und des Kontinents schwebt, und das sich nur alle fünf Jahre erdet. Doch manchmal ist Brüssel ganz nah dran an den Themen und Problemen, den Debatten und Diskussionen und das an unerwarteten Orten in der europäischen, in der belgischen Hauptstadt. Einer dieser Orte ist die Kirche Saint Jean Baptiste du Béguinage im Brüsseler Stadtteil Sainte Catherine. Hier haben im September vergangenen Jahres Menschen aus Afghanistan Zuflucht gesucht und harren seitdem dort aus. Sie fordern ein Aufenthaltsrecht in Belgien und protestieren für ein Recht auf Asyl. Am Anfang waren es 400 Kirchen-Besetzer, darunter Familien mit Kindern. Nun sind es nur noch 20 – und auch sie müssen bald das Gotteshaus räumen, so hat es der zuständige Kirchenrat beschlossen. Eine Infobox soll bleiben und über das Schicksal der Flüchtlinge informieren.
Etwa 750 Kilometer östlich liegt der Oranienplatz. Berlin-Kreuzberg. Kneipenviertel, bekannt auch für seine linksalternative Szene. Auch dieser Platz wurde von Flüchtlingen besetzt. Im Oktober 2012 hatten sie ihre Zelte aufgeschlagen. Sie demonstrierten gegen das deutsche Asylverfahren, damit gegen ein Ende der Residenzpflicht, gegen Abschiebungen, für gleiche Sozialleistungen, ein Recht auf Arbeit und ein Recht auf Wohnung. Die Politik in Berlin zeigte sich überfordert, hatten die Protestierenden doch zunächst ihr Camp am Brandenburger Tor aufgeschlagen und einen Hungerstreik begonnen. Die Verantwortlichen fürchteten sich um das Image Deutschlands und verlagerten den Protest mitsamt der Bewegung auf den Oranienplatz. Man hoffte still und insgeheim, dass ein kalter Winter den Protest beenden würde. Doch die Asylsuchenden wurden von der Bevölkerung unterstützt. Mit der Zeit und einigen Skandalen um veruntreute Spendengelder wich die Solidarität. In Deutschland wie in Belgien.
Dort organisierten die Afghanen einen Demonstrationszug durch die Stadt zum Haus von Maggie de Block, belgische Staatssekretärin für Asyl und Integration. Sie ließ den Demonstranten ausrichten: „Gesetz ist Gesetz“. Und nach diesem gelten bestimmte Regionen Afghanistans als sicher, darunter etwa die Hauptstadt Kabul. Heißt konkret: Es darf abgeschoben werden.
Gesetz ist Gesetz – in diesem Zwiespalt sah sich auch Dilek Kolat, Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration, die in Berlin mit den protestierenden Flüchtlingen auf dem Oranienplatz verhandelte. Einerseits brachte sie größtes Verständnis für die persönlichen Biografien, die Notlage und Sorgen auf, andererseits wusste auch sie, dass sich der Staat nicht erpressbar machen darf. Sie fand sich aber auch in der Zwickmühle, mit wem sie dort überhaupt verhandeln sollte. Es gab eine Gruppe von Lampedusa-Flüchtlingen auf dem Platz, die in Italien als Flüchtlinge anerkannt, aber dennoch weiter geschickt wurden. Trotzdem erreichte Kolat die Räumung des Platzes. Sie bot Unterkunft plus eine „wohlwollende Prüfung“ der Anträge auf Asyl oder Aufenthaltsrecht. Die Flüchtlinge zogen in ein ehemaliges Hostel. Am Platz blieb eine Infobox, die über den Protest informieren soll.
Kolat gelang es damit, die Flüchtlingspolitik aus dem Europawahlkampf in Berlin herauszuhalten. Rechtskonservative Parteien versuchten bereits, die Situation auf dem Platz für ihre Zwecke und Ziele zu instrumentalisieren. Doch mit dem Umzug in das Hostel scheint, als wäre auch die Flüchtlingspolitik aus dem öffentlichen Interesse wieder verschwunden und die Diskussion um eine europaweit einheitliche Flüchtlingspolitik auf die lange Bank geschoben. Die Asylpolitik Europas muss sich daran messen, ob es die Union sich wirklich leisten kann, sie derart abzuschotten. Als die Schweiz Anfang des Jahres den Zuzug von Menschen aus der EU wieder begrenzte, weil dies ein Volksentscheid forderte, war die Entrüstung groß. Es könne nicht sein, dass sich ein Land derart einmauere, war die Argumentation, und es würde der Wirtschaft der Schweiz langfristig schaden. Die Punkte gegen eine Abschottung der EU sind die gleichen.
Brüssel muss sich auch überlegen, was es Flüchtlingen bieten kann, was nicht und wo es das leisten kann. Damit ist auch der Lastenausgleich zwischen allen Mitgliedsländern und Regionen gemeint, wenn nötig muss dies auch mit einer Residenzpflicht geregelt werden. Darüber hinaus müssen einheitliche und verbindliche Regeln aufgesetzt werden für existenzielle Rechte und es muss die Möglichkeit geschaffen werden, dass Flüchtlinge arbeiten dürfen. Gerade in der Flüchtlingspolitik muss die EU in dem Maße Verantwortung übernehmen, wie sie ihren Wohlstand auf dem globalen Handel aufbaut. Vor allem aber muss sie alles unternehmen, um den Menschenhandel zu unterbinden und denjenigen Schleppern und Schleusern die Grundlage entziehen, die aus dem Schicksal verzweifelter Menschen ihren Reichtum ziehen.