Ein Dutzend Arbeiter und Ingenieure posieren vor der weit aufgesprengten Festungsmauer auf einem Haufen Geröll, dahinter die Dächer der Stadt. Landvermesser haben Fluchtstäbe zwischen die Gesteinsbrocken gesteckt, dort wo die künftige Avenue Monterey die Bürger und die Waren aus der engen Festungsstadt ins freie Feld, nach Merl, Dippach, Longwy, in die weite Welt führen soll.
Das auf mehrere Quadratmeter vergrößerte Foto im Museum von Drei Eicheln wurde im Frühling 1869 aufgenommen. Drei Jahre zuvor hatte der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck einen neuen Krieg angezettelt, um der deutschen Industrie einen einheitlichen Binnenmarkt zu erobern, nach Dänemark 1864 diesmal gegen Österreich.
Der französische Kaiser Napoleon III. hatte schweigend zugesehen. Als Schweigegeld wollte er dem holländischen König die preußische Festung Luxemburg für fünf Millionen Florin abkaufen dürfen, das Großherzogtum kostenlos obendrein. König-Großherzog Wilhelm III. konnte das Geld gut gebrauchen, aber Bismarck wurde wortbrüchig und sabotierte das Geschäft.
In der Ausstellung Luxembourg ville ouverte 1867 liegen handgeschriebene Briefe aus den Kanzleien über den Beginn der Luxemburgkrise. Zeitschriften mit romantischen Festungsansichten und Karikaturen zeigen, wie das Gefeilsche um die Festung zum Nation branding wurde: Noch nie war so viel in Europa über den Zwergstaat geredet worden wie in diesen Monaten.
Im Mai 1867 kamen Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich, Preußen und Russland in London zusammen. Um den Krieg zwischen Preußen und Frankeich aufzuschieben, bis 1870, beschlossen sie, dass die Festung abgerissen und so weder preußisch bleiben, noch französisch werden sollte. 1867 ließ Alfred Nobel auch sein Dynamit patentieren, Festungen waren sowieso bald unnütz. Der niederländische König musste sein Großherzogtum behalten und zu einem neutralen Staat erklären. Der Traum, die Neutralität vielleicht einmal zu einem Geschäft zu machen, wie die Schweiz, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig aufgegeben.
In breiten Vitrinen sind die sorgfältig kaligrafierten Texte des Londoner Vertrags ausgebreitet. Dann kann sich die Ausstellung endlich ihrem eigentlichen Anliegen widmen: der Schleifung der Festung und der Bebauung der so entstandenen Brachen. Die Festung war nicht nur der Grund, weshalb das Großherzogtum auf dem Wiener Kongress erfunden worden war, sondern sie stellte auch eine später monolithisch genannte Existenzgrundlage des Zwergstaats dar, wie danach die Stahlindustrie und wieder danach der Finanzplatz. In welchem Umfang Luxemburg anfangs von der Rüstungsindustrie lebte, erklärte das Luxemburger Wort am 3. Mai 1867 auf seiner Titelseite: „Man hat kürzlich ausgerechnet, daß die preußische Regierung an Gehaltscompetenzen für Officiere und Aerzte, Löhnung und Mundverpflegung der Soldaten, exclusive der Generalität und Stabsoffiziere der Besatzung Luxemburgs, monatlich ungefähr 54,855 Thlr., mithin jährlich 658,266 Thlr. verausgabt. Rechnet man hiezu die jährlichen Competenzen der Generalität, der Stabsofficiere und deren Adjutanten, das Personal und die Bedürfnisse der Geniedirection, des Artilleriedepots, des Proviantamts, der Garnisonverwaltung, der Lazarethverwaltung, der Geistlichkeit, Lehrer und Schule &c., so steigert sich diese Summe auf jährlich 707,454 Thlr. Nimmt man hierzu die Zahlung für Arbeitslöhne an Tischler, Schlosser, Schmiede &c., die Beschaffung von Baumaterial, den Ankauf von Brennholz, Beleuchtungsmaterial, Korn und Hülsenfrüchten, Fourage und Stroh &c. und die Bedürfnisse für die Militärwerkstätten, welches Alles auf 500,000 Thlr. jährlich berechnet worden ist, so ergiebt sich eine Summe von 1,267,454 Thlr. Diese Summe kommt zunächst der Stadt und in weiteren Radien dem ganzen Lande zu Gute.“ Stimmt die Rechnung, machten 1867 mit 1 272 966,67 Thaler sämtliche Staatseinnahmen genauso viel aus wie der Umsatz des Festungsgeschäfts.
Große und kleine, gezeichnete und gedruckte Pläne zeigen, dass der Abriss der Festungsbauten ein einmaliges Immobiliengeschäft war, an dem sich Bürger, Banken und Bistum beteiligten. Auf den aufgeschütteten Festungsgräben errichteten sie Villen, in denen heute Anwaltskanzleien ausländische Steuerflüchtlinge beraten. In leerstehenden Festungsbauten wurden Start-ups untergebracht, wie die Nudel- und Schokoladenfabrik Hastert, oder Kultur, zum Beispiel die Musikschule.
In seiner Ansprache zum Nationalfeiertag hatte sich der liberale Premierminister und Ex-Bürgermeister Xavier Bettel gefreut: „Mam Opmaache vun der Festung gouf e Prozess ugefaangen, deen eis bis haut begleet. D’Land ass opgaange fir Handel an Austausch, mir ware vun 1867 un net méi isoléiert, mee exponéiert.“ So als ob die Luxemburger schon vor 150 Jahren Nationalismus und Brexit eine Abfuhr erteilen wollten und die Öffnung der Stadt der erste Schritt in eine glückliche Globalisierung gewesen wäre, in die sie bis heute unbeirrbar weitermarschieren. Deshalb weihte dieselbe Regierung, die eine Ausstellung über den Ersten Weltkrieg verhindert hatte, die Ausstellung über den Londoner Vertrag mit Pomp, der britischen Queen consort in spe und einer Sonderbriefmarke mit Ersttagsstempel ein.
Doch Zwergstaaten sind zu eng und ohnmächtig für die ungehinderte Entfaltung von Patriotismus: 1867 waren die herrschenden Kreise in Regierung, Verwaltung, Handel, Industrie und Kirche bereit, sich mit jedem zu arrangieren, der ihre Privatgeschäfte respektierte, 1914 hatten sie auf einen deutschen Sieg gesetzt und verloren, 1940 hatten sie es laut Artuso-Bericht mit den Nazis und den Alliierten gehalten.
Während Premier Xavier Bettel sich im Vorwort zum Ausstellungskatalog freut, dass 1867 „l’État luxembourgeois commença à jouer un rôle actif sur la scène internationale“, rührte sein Vorgänger, Premier Victor de Tornaco, keinen Finger und musste vom König-Großherzog ermahnt werden, die Londoner Verhandlungen nicht zu sabotieren. Denn „Tornaco, pas plus, d’ailleurs, que les autres dignitaires du régime, ne tenait à perdre à la fois, charges, honneurs et revenus, à l’occasion d’un changement de régime“, so der Historiker Cristian Calmes in 1867 L’affaire du Luxembourg (1967, S. 281).
1867 gingen die Meinungen weit auseinander, ob Luxemburg preußisch, französisch, belgisch oder selbstständig werden sollte. In Zeiten des Zensuswahlrechts, als nur das Besitzbürgertum wahlberechtigt war, meldeten sich die besitzlosen Klassen mit Unterschriftenlisten zu Wort. Zwei Jahrzehnte nach der Revolution von 1848 und ein Jahrzehnt nach dem Putsch des König-Großherzogs fand in der Öffentlichkeit eine politische Debatte statt, die es in diesem Umfang noch kaum gegeben hatte, auch wenn anti-französische Pfarrer und französische Agenten sie zu manipulieren versuchten.
„Nous avons été frappé, par exemple, en parcourant les pétitions mosellanes, vieilles d’un siècle où des villages entiers, maison par maison, signent leur choix — souvent malhabilement en traçant une croix —, avec en tête les signatures du curé et du bourgmestre, de ce témoignage impressionnant d’une volonté politique claire et nette“, schreibt Cristian Calmes. „La volonté de l’indépendance existait virtuellement ; plus encore un mouvement puissant, traduisant la pensée profonde du pays, s’amorçait. Il sera freiné par le gouvernement et l’attitude indécise des habitants de la ville de Luxembourg“ (S. 363).
Gar nicht weltoffen schickte der Gemeinderat der Stadt Luxemburg am 3. Mai 1867 eine Bittschrift an den König-Großherzog, um die Schleifung der Festung zu verhindern, denn „la propriété bâtie baisserait de 50% de sa valeur“. Das vor allem am preußischen Absatzmarkt interessierte Industriebürgertum machte sich für den Verbleib in der Zollunion stark.
Der liberale Courrier du Grand-duché de Luxembourg und das klerikale Luxemburger Wort waren für einmal einig und warben für eine diplomatisch formulierte Petition des Bürgertums, die laut Courrier vom 6. Mai auf „indépendance, continuation de nos relations commerciales et maintien, dans nos murs, de la garnison prussienne“ hinauslaufen sollte.
In dem jungen und noch wenig stabilisierten Staat wurden die unterschiedichen Geschäftsinteressen nur notdürftig als Vaterlandsliebe getarnt. „Entre toutes ces pétitions“, so Christian Calmes, „il y avait évidemment de grandes différences : les habitants de la campagne demandaient le maintien de l’indépendance pure et simple, les citadins, par contre, présentaient une pétition tendant à ménager la chèvre et le chou“ (S. 359). Michel Rodange verspottete diesen Opportunismus fünf Jahre später mit „Fransous och beim Champagner, / Beim Rhäinwäin si mer Preiss“.