„hold tight, get a grip,
the whole world is going to hell“
(Get well soon)
2014 schrieb die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn in ihrer kulturwissenschaftlichen Studie Zukunft als Katastrophe, dass „der apokalyptische Ton, den Jacques Derrida den achtziger Jahren bescheinigte, gegenwärtig in den unterschiedlichsten Spielarten und Diskussionsformen“ zurückkehre. In der Tat hat sich seit gut zehn Jahren, auch als Reaktion auf die globale Finanzkrise, ein grundsätzlicher Zukunftspessimismus etabliert, der je nach Land, Autor und Anlass mal als klimatische, politische oder soziale Katastrophe daherkommt.
Alle Entwürfe aber eint die Idee eines Desasters, das uns bevorstünde und dessen erste Vorboten wir gerade erleben würden. Diesem in Kunst und Medien ständig variierten Bild einer kommenden Katastrophe kommt laut Horn eine besondere Funktion zu: „Es bringt etwas aus der Latenz hervor, es schafft ein Ereignis, etwas Erzähl-, Darstell- und Erlebbares, in dem die ungreifbare und bedrohliche Zukunft greifbar wird.“ Diese Entwürfe sind für Horn denn auch „Agenten einer Formatierung von Zukunftserwartung“, in ihnen zeigt sich, wie sich eine Gemeinschaft gegenüber dem Zukünftigen aufstellt. Freudig? Oder doch ängstlich?
Cattenom als Schreckensbild
In Luxemburg wendet sich die katastrophische Imagination in Ermangelung extremer Wetter- und Naturerfahrungen (Dürre, Flutwelle, Schneesturm), die oftmals die Grundlage apokalyptischer Szenarien stellen, einem spezifischen Schreckensbild zu: Cattenom. Das Atomkraftwerk in Lothringen wurde ab 1979 errichtet, bis 1991 nahmen nach und nach vier Druckwasserreaktoren den Betrieb auf. Größere Siedlungen befinden sich in naher Umgebung: Trier ist 48 Kilometer, Luxemburg-Stadt 46 Kilometer, Metz lediglich 33 Kilometer entfernt. Seit seinem Bau steht das AKW in der Kritik: Die Energie sei nicht sauber, vor allem aber sei die Anlage nicht sicher, ein Reaktorunglück beträfe die gesamte Großregion. Mit den Worten von Henri Kox, dem ehemaligen Bürgermeister von Remich: „Wenn Cattenom in die Luft fliegt, ist Luxemburg ausradiert.“
In ihrem Buch schreibt Horn, dass der technische Unfall, etwa bei Autos, Kraftwerken oder Industrieanlagen, zur „emblematischen Situation der Moderne“ geworden sei. In der Fehlfunktion der Apparate, die unseren Lebensstandard sichern, offenbart sich ihr zufolge die Kehrseite des Versprechens von Sicherheit, Komfort und Fortschritt. Je wirkmächtiger die Technik ist, desto fataler muss ihr Scheitern sein. Gerade deswegen sind Atomkraftwerke wie jenes in Cattenom seit ihrem massenhaften Bau in den 70-er und 80-er Jahren ein so starker ikonografischer, auch politaktivistischer Stimulus.
Möglichkeitsräume des Schiefgehens
Der 1986 geborene Yorick Schmit nutzt nun das Dispositiv rund um Zeitmentalität, Weltende und Krisenlust erzählerisch. In Eng Stëmm an der Stëllt, einer Geschichte, die seinen jüngst erschienenen Erzählband Der Geruch der Erde nach dem Regen eröffnet, beschreibt der Erzähler die Cattenom-Skyline folgendermaßen: „Hannert de Bëscher a Wisen hunn dräi Tierm um Horizont erausgekuckt. Et hat ee sech scho bal u se gewinnt. Se waren en Deel vun der Landschaft, näischt Besonnesches méi. De wäissen Damp, dee soss Dag fir Dag an d’Luucht gespaut ginn ass, war lo schwaarz, huet zesummen mat der Nuecht déi lescht Sonnestrahlen am Weste verdriwwen.“
In einer nahen Zukunft, irgendwann in den 2020-er Jahren, ist es im lothringischen AKW zum Super-GAU gekommen. Alles, vor dem Bürgerinitiativen wie Cattenom Non Merci warnen, tritt bei Schmit ein: Es gibt zahlreiche zivile Opfer, Auffangzentren für Geflüchtete werden in Mersch, Ettelbrück und Wiltz errichtet, die Sperrzone umfasst den gesamten Süden des Landes. Einer der wenigen, die heimlich zurückgeblieben sind, ist Schmits Protagonist, ein älterer Mann, der die verödeten Bauernhöfe und Ställe abklappert, um sich um verwahrloste Tiere zu kümmern. Dafür streunt er illegal durch die Zone, muss dem Militär ausweichen und setzt sich radioaktiver Strahlung aus.
In gewissem Sinne stellt Eng Stëmm an der Stëllt das literarische Pendant zum Plan d’intervention d’urgence (PIU) dar, der 2014 in aktualisierter Form veröffentlicht wurde. Der gemeinsam vom Staats-, Gesundheits- und Innenministerium aufgestellte Plan skizziert die Entscheidungsabläufe und Maßnahmen im Falle eines Reaktorunglücks in Cattenom. Hierfür muss er wie die Literatur mit einer Simulation arbeiten. Während Schmits fiktionaler Text empathisch das Innenleben einer Figur ausleuchtet, reagiert der PIU durchweg bürokratisch. Auf 19 PDF-Seiten kommt das Wort „urgence“ 38-mal vor, das Wort „mesures“ sogar 45-mal. Und wir stoßen auf Satzmonster wie: „L’urgence nucléaire désigne une situation qui découle d’un accident risquant d’entraîner une émission de matières radioactives, susceptibles de porter atteinte à la santé de la population ainsi qu’à l’environnement.“
Auf ihre Weise loten beide Texte den „Möglichkeitsraum des Schiefgehens“ (Horn) aus, einmal als Strategiepapier, einmal als Prosastück. Interessant ist dabei, wie sie mit ihrer Simulation umgehen: Während der PIU pedantisch ist und alles Mögliche, auch Nutzlose ausbuchstabiert, ist Schmits Erzählung durchweg pathetisch, indem sie mit starkem Stilaufwand auf ein kriselndes Bewusstsein zoomt. Zugleich wollen beide einen Effekt der Beruhigung herstellen: Der PIU will der Bevölkerung versichern, dass der Staat vorbereitet ist; Eng Stëmm an der Stëllt führt der Leserschaft affirmativ vor, wie ein Mensch auch im Extremfall human und selbstlos handelt.
Luxemburg als Sonderzone
In Shadowrun, einem sogenannten Pen-and-Paper-Rollenspiel, ist Cattenom längst in die Luft geflogen, dort kam es bereits 2008 zum Super-GAU. Bei dieser Form des interaktiven Rollenspiels trifft sich eine kleine Gruppe, um gemeinsam in eine fiktive Welt einzutauchen. Ein Spieleleiter denkt sich eine Geschichte aus, die Teilnehmer stellen sich Charaktere zusammen, etwa diebische Elfen oder brachiale Trolle. Ausgestattet mit Profiltabellen, Landkarten und Stiften (daher der Name) wird dann ein Abenteuer bestritten. Shadowrun bezieht sich auf die Weltlage Ende der 1980-er Jahre, entwickelt diese aber in eine fantastische Richtung. Magie gehört zum Alltag, Cyborgs bevölkern die Städte, das nationale Staatensystem hat ausgedient.
Im Eintrag zu Luxemburg, der auf der Wikipedia-ähnlichen Website Shadowhelix erstellt wurde, lesen wir: „Das Großherzogtum Luxemburg ist ein untergegangener europäischer Kleinstaat, der von 1839 (1867) bis 2008 bestand, dann durch den Super-GAU von Cattenom radioaktiv verseucht wurde und vollständig evakuiert werden musste. Das Staatsgebiet von Luxemburg liegt heute innerhalb einer von Konzerninteressen autonom verwalteten Sonderzone. Die Gemeinschaft der Exil-Luxemburger und das herzogliche Herrscherhaus erheben aber weiterhin Anspruch auf das luxemburgische Territorium.“
Im Laufe eines Pen-and-Paper-Abends könnten sich Situationen ergeben, die die Figuren in das verseuchte Gebiet führen. Vielleicht erteilt der (Groß-)Herzog einem den Auftrag, eine Halskette auf Schloss Colmar-Berg zu finden? Solche kontrafaktischen Welten, die historische Alternativen ausgestalten, bieten einem dabei eine spezielle Art der Erkenntnismöglichkeit an. Im Gegensatz zur Literatur ist die Teilhabe am Was-wäre-wenn-Desaster dynamischer, die Erfahrbarkeit der Katastrophe interaktiver.
Apokalyptik als Denkfigur
Beide Szenarien operieren dabei innerhalb einer spezifischen Jetztzeit-Stimmung. Sie statten die diffuse Idee eines Niedergangs mit Bildern und Wörtern aus, bringen sie, um mit Horn zu sprechen, aus der Latenz hervor. In dieser Hinsicht sind sie immer auch in ihrer politischen Dimension zu erfassen. Denn sie lassen sich als (kreative) Folge von „Krisenrhetorik und Kulturpessimismus“ deuten, die der Zeithistoriker Paul Nolte in seinem Essay Unbehagen in einer behaglichen Welt beschrieben hat. Ihm zufolge lässt sich der Apokalypse-Sprechmodus als ein Werkzeugkasten betrachten, der oftmals „von den politischen Lagern gegeneinander aufgeboten“ wird, um die Öffentlichkeit auf die eigene Seite zu ziehen. Eng Stëmm an der Stëllt ebenso wie Shadowrun beteiligen sich an dieser gesellschaftspolitischen imaginären Praxis, in der ausgehandelt wird, mit welchen Ängsten und Hoffnungen wir dem Zukünftigen entgegentreten. Grob lassen sich dabei zwei mögliche Funktionszuschreibungen vornehmen:
Die Endzeitatmosphäre wird – Option A – in andere (Kunst-)Räume ausgelagert. Und sie wird nur dort wirksam, ihr Fatalismus hat keine Auswirkung auf den gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Das wäre die optimistische Auslegung, dann würde eine Art crisis relief einsetzen: Indem wir „das Übermaß von Zuspitzung, von Untergangsnarrativen und Zusammenbruchsfantasien“ (Nolte) in der Fiktion beziehungsweise im Spiel isolieren, unterziehen wir den Diskurs einer Dekontamination. Dadurch wird vermieden, dass unsere Lebenspraxis von einem ausschließlich destruktiven Denken beherrscht wird.
Option B ist das Gegenteil eines solchen Hygiene-Arguments: Die Kunsträume sind spiegelbildlich zur gesellschaftlichen Realität angelegt. Und beide Elemente strahlen jeweils aufeinander zurück. Die gefühlte Krise bringt als Erzählung, Bild, Spiel oder Film eine imaginierte Krise hervor, die wiederum als vermeintlicher Beweis für die Legitimität des eigenen Gefühls herhält. So entsteht ein Spiegelkabinett des Desasters, das sich mutmaßlich ewig in die Zukunft hineinverlängert. Ein Ausbruch aus diesem unendlichen Totalkriseneffekt ist irgendwann gar nicht mehr denkbar, so gesetzmäßig wirkt er. (Dabei müsste man nur die Spiegel umstellen beziehungsweise zerschlagen.)
Dieser Befund spricht weder für noch gegen das Untergangsszenario in der Kunst. Deren Aufgabe liegt nicht darin, Maßnahmen zur Rettung und Besserung einer Gesellschaft einzuleiten. (Das ist viel eher Aufgabe der Politik.) Der erste, vielleicht auch der einzige Schritt mag in Anbetracht dieser beiden Optionen darin bestehen, sich der Implikationen (Fatalismus, Polit-Lähmung, Extremismus) bewusst zu werden, die in der Apokalyptik als gerade omnipräsenter Denkfigur stecken. Es wäre sicherlich keine schlechte Trainingsübung, um der Versteifung des Denkens vorzubeugen, die gerade so viele beschleicht.