Neun New Yorker Schicksale versammelt das späte Prosadebüt Les Bulles des vor allem als Lyriker bekannten Tom Reisen. In den Kulissen der amerikanischen Weltstadt führt der Autor seine Figuren aus kleinen Alltagszenen heraus in verhängnisvolle Situationen, die sie aus den Selbstverständlichkeiten ihrer Existenz herausreißen. Neben dem Schauplatz fungiert dabei auch die titelgebende „bulle“ als Leitmotiv; das Wort kommt praktisch in jeder Geschichte gegen Ende genau einmal vor und verweist auf das Gefangensein in den eigenen Denk- und Handlungsmustern, aus denen es auszubrechen gilt. Auf den ersten Blick erinnert Reisens Ansatz ein wenig an den seiner Verlagskollegin Elise Schmit und ihrer Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen. Das ästhetische Programm geht aber in eine andere, weniger unterkühlte Richtung. In seine „microrécits“ packt Tom Reisen gerne maximal viel hinein. Die nie mehr als zehn Seiten langen Texte sind vielfach auf eine überraschende und hochdramatische Wendung hin geschrieben, die sich leider zu oft als Effekthascherei entpuppt.
Das narrative Verfahren lässt sich an „Un mensonge“ gut beobachten. Der Held dieser Geschichte ist – typisch für Les Bulles – ein verheirateter Mann mittleren Alters und Mitglied der wohlhabenden kosmopolitischen Klasse Manhattans. Liam Barnley ist Kunstexperte und soeben von einer Kongressreise aus Europa zurückgekehrt. Bevor er sich schlafen legt, googelt er auf seinem Rechner noch kurz das Restaurant, in dem er am nächsten Tag mit seiner Ehefrau Bridget verabredet ist. Auf den Street View-Bildern meint Liam Bridget in Begleitung eines anderen Mannes zu erkennen. Ganz sicher kann er sich aufgrund der verpixelten Gesichter nicht sein, aber es entspinnt sich dennoch schnell ein bürgerliches Eifersuchtsdrama 2.0. Mithilfe von Laptop und Smartphone hat der Protagonist den vermeintlichen Ehebruch in Windeseile bewiesen und die Trennung mental schon vollzogen. Das alte Leben ist als Lüge entlarvt, doch es enststeht der Verdacht, dass Liam nur das wahrnimmt, was in die einmal angenommene Sichtweise passt. Wo eine Blase zerplatzt, könnte sich die nächste schon bilden.
Soweit schreibt Tom Reisen einen stimmigen Text über die Verlockungen eines allgegenwärtigen Informations- und Überwachungsangebots. Aber das reicht ihm scheinbar nicht, und so lässt er „Un mensonge“ abrupt mit einem Anruf von Bridgets Mutter enden, die Liam erklärt, seine Ehefrau sei soeben an einem Schlaganfall gestorben. Diese weitere Wendung erscheint unnötig, ein Schockmoment, der die Leserinnen und Leser in größtmöglicher Verstörung zurücklässt, in der Dramaturgie des Textes allerdings aufgesetzt wirkt. Was an feiner psychologischer Beobachtung, behutsamem Aufbau und lakonischer Beschreibung voranging, wird für einen erzählerischen Kniff bereitwillig über Bord geworfen. Auch anderswo stellen sich die Geschichten selbst ein Bein, wenn sie am Schluss groß auftrumpfen wollen: Ein Vater-Sohn-Ausflug ins Museum endet mit der Enthüllung, dass der Vater Krebs hat; der Nachbar auf der Parkbank, der 9/11 hoch oben im World Trade Center überlebt haben will, ist plötzlich wie von Geisterhand verschwunden; ein serbischer Schriftsteller sucht für sein Romanprojekt nach einem alten Weggefährten und muss zu seinem Erschrecken feststellen, dass dieser wegen Kriegsverbrechen angeklagt ist.
Wo der Autor sich hingegen mit Plot-Twists zurückhält und offenere Enden riskiert, gewinnen die Texte merklich an Qualität. Dann kann man sich ganz auf den langsamen Bewusstseinswandel der Figuren konzentrieren, wie sie sich aus der Schale ihrer festgefahrenen Alltagsroutinen herauswinden – und am Ende doch nicht wissen, ob sich hinter den unbequemen Wahrheiten, denen sie sich stellen, nicht einfach bloß neu zurechtgelegte Illusionen verbergen. In „Et c’est ainsi qu’elle partit“ zum Beispiel ist ein Expat unterwegs zum Flughafen – er ist von seiner Firma versetzt worden – und denkt zurück an das unrühmliche Ende einer Beziehung, die ihm im Rückblick mit seiner Zeit in New York eng verwoben erscheint. Dabei bleibt in der Schwebe, ob der Held die Erlebnisse in seiner Erinnerung abschließend ins rechte Licht rückt oder endgültig nostalgisch verklärt. „The essential thing resists telling“, zitiert Reisen zu Beginn aus Paul Austers New York Trilogy. Wo es sein Motto beherzigt, ist Les Bulles konventionell, aber durchaus solide, insgesamt aber doch sehr unausgewogen.