Als 1999 Guy Berg in der Bibliothek von Schloss Ansemburg im Marienthal eine verloren geglaubte Handschrift des Yolanda-Epos aus dem 14. Jahrhundert wiederfand, sorgte die Entdeckung für einige Aufmerksamkeit (d’Land, 26.11.99). In der Fachwelt, weil es eines der wenigen literarischen Zeugnisse in mittelhochdeutscher Sprache aus dem moselfränkischen Raum ist und in den bis dahin bekannten Abschriften wichtige sprachliche Eigenarten verloren gegangen waren. Und in der Öffentlichkeit, weil die fromme Geschichte von Bruder Hermann von Veldenz bei Bernkastel über die Viandener Grafentochter und Nonne Yolanda zum uralten Zeugnis der Luxemburger Sprache und damit der nationalen Identität verklärt wurde.
In der ersten Euphorie kündigte die damalige Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges (CSV) den umgehenden Erwerb des Codex Mariendalensis durch den Staat an und die beteiligten Sprachforscher für 2001 eine kritische Textedition des Epos. Die Verhandlungen zuerst mit dem Grafen von Ansemburg und dann mit dessen Erben dauerten aber fast ein Jahrzehnt, bevor der Staat die Handschrift überteuert erwarb (d’Land, 27.3.09), zusammen mit Archivalien, die bereits seit 1963 im Staatsarchiv lagen, und den Resten einer Bibliothek, die inzwischen unkatalogisiert in einem Keller angeschimmelt sind.
Auch die kritische Textedition stand nicht unter dem besten Stern. Das Gemeinschaftsprojekt von Sprachwissenschaftlern, Literaturhistorikern und Mittelalterexperten, mit staatlichen Zuschüssen eine genaue Abschrift des Textes mit Erklärungen, Kommentaren, Übersetzungen, Vergleichen und Verzeichnissen in einem renommierten deutschen Verlag zu veröffentlichen, scheiterte rasch an Meinungsverschiedenheiten zwischen den Autoren. So dass in der Zwischenzeit weitere Übersetzungen und Übersetzungen von Übersetzungen erschienen und die Auswertung des vom Staat gekauften und in der Nationalbibliothek gehorteten Epos fest in die Hand der Universität Trier übergegangen ist.
Mit einigen Jahren Verspätung hat die Altgermanistin Claudine Moulin nun keine große kritische Edition, sondern eine nackte Abschrift des Textes in der so gut wie unter Ausschluss der Öffentlichkeit erscheinenden Schriftenreihe des Institut grand-ducal-Leo veröffentlicht. Im Vergleich zu den rezenten Luxusbänden des Staatsarchivs über die Chroniken unbekannter Echternacher Mönche oder dem diese Woche vorgestellten monumentalen Katalog Echternacher Handschriften wirkt die spartanische Broschüre mit dem verrutschten Satzspiegel fast wie Hohn. Doch nachdem man sich ein Jahrhundert lang mit der Abschrift von John Meyer begnügen musste, die eine Wiltheim-Abschrift aus dem 17. Jahrhundert rücksichtslos modernisierte und selbst aus „ýoland“ „Iolant“ machte, ist die Publikation ein Meilenstein und sie verbreitet erstmals den Originaltext der mittelalterlichen Handschrift.
Hervorzuheben ist der Versuch, die gepflegte und gut lesbare Schrift in möglichst großer Treue zum Original wiederzugeben, mit allen Punkten und Akzenten, die auf keiner Computertastatur zu finden sind. Die Herausgeberin hat der üblichen Versuchung widerstanden, zwecks besserer Lesbarkeit, den Lesern ein „u“ für ein „v“ und umgekehrt vorzumachen, die langen und kurzen „s“ zu vereinheitlichen, Abkürzungen auszuschreiben und Fehler zu verbessern. Die wenigen Fußnoten machen lediglich auf Textverluste, Fehlstellen und Korrekturen von alter Hand aufmerksam.
Der Übersichtlichkeit halber entspricht jede Seite der Abschrift einer Seite der Handschrift. Allerdings beginnt die Abschrift, anders als das Manuskript, auf einer rechten Seite, so dass sich nun die Recto- und Verso-Seiten eines Blatts gegenüberliegen. Am Ende des Manuskripts fehlt eine Anzahl Blätter mit dem Schluss des Gedichts. Deshalb hat Moulin ihre Abschrift der Vollständigkeit halber um 345 Verse aus John Meyers Abschrift ergänzt.
Geplant sind ein zweiter Band mit einem Wörterverzeichnis des Gedichtes und ein dritter mit einer modernen Übersetzung. Auch eine Digitalisierung war beabsichtigt. Doch die Umstände, unter denen diese Edition veröffentlicht und gestern Donnerstag in Trier vorgestellt wurde, schafft nicht gerade die besten diplomatischen Voraussetzungen dafür.