Wollte man durchaus Minuspunkte verteilen, könnte man vermutlich sagen: Knapp neunzig Seiten in unbebrillt bequem zu lesender Schrift als „Roman“ zu bezeichnen, erscheint etwas verwegen. „Erzählung“ hätte es doch auch getan. Ebenso könnte man die Notwendigkeit bezweifeln, in der Buchbeschreibung mit großspurigen Etikettierungen um sich zu werfen, wie zum Beispiel, es handele sich hier um eine Radikalisierung des „neuen luxemburgischen Romans“. Der Nörgler wird dann allerdings schnell zugeben müssen, dass solche Bedenken nicht die Autorin betreffen, sondern die Marketingstrategien des Verlags. Auf jeden Fall wird schon nach wenigen Seiten deutlich, dass sich Sibiresch Eisebunn ganz leicht einordnen lässt, wo es um die wichtigste aller literaturkritischen Kategorien geht: Es ist ein gutes Buch.
Sibiresch Eisebunn handelt von Leny Kramp, einer Frau Ende dreißig, die keine besonderen Begabungen hat, keinen verfügbaren Ehemann und kein Geld. Dafür hat sie allerdings einen dreijährigen Sohn namens Luca, der sich zwar meist erstaunlich ruhig verhält, aber trotzdem nicht stundenlang in seinem Kinderwagen sitzen bleiben will. Bei aller nahezu bedingungsloser Arbeitswilligkeit, die Leny Kramp an Tag legt, erschwert das die Suche nach einer geeigneten Stelle erheblich.
Wo Leny auch arbeitet, Luca kommt mit. Im Eingangsbereich eines Einkaufszentrums sitzen und die Kunden („déi Benzeg“) begrüßen: Das Kind wird zum Security-Problem. Babysitting bei reichen Leuten: Ausgeschlossen, da deren hypersensible Tochter fremde Kinder nicht erträgt. Leny ergattert eine Stelle im Altenheim, wo sie sich unter dem strengen Blick der Direktorin an der ergotherapeutischen Infantilisierung von Senioren beteiligen muss, die sich im Übrigen unter ständigem Gemecker dazu befleißigen, ihre Bemühungen konsequent zu sabotieren. Als ein paar Gebäckstücke Lucas Spielwut zum Opfer fallen und Leny sich erdreistet, den Text von „O Mamm, léif Mamm“ nicht mitsingen zu können, ist es auch mit dieser Stelle Essig. Da hat man die ersten zwanzig Seiten des Buches hinter sich und ahnt: In der bestimmt nicht realitätsfern gemeinten Welt, die die Autorin in Sibiresch Eisebunn heraufbeschwört, gibt es keine guten Menschen.
Wer sich wieder an eine Kategorie halten will, möge sich zunächst an den Begriff der Gesellschaftssatire halten: Die Besucher des Einkaufszentrums rammen einander mit ihren Einkaufswagen und beschweren sich, wenn die Dame am Empfang nicht Guten Tag sagt oder wenn sie meinen, die Dame am Empfang hätte nicht Guten Tag gesagt. Die begüterten Mütter vor der Kindertagesstätte ignorieren Leny und boykottieren Lucas Geburtstagsfest. Die bigotten Kleingeister, die sich hinter fadenscheinigen Argumenten und sinnfreien Vorschriften verschanzen, sind überall.
Aber auch die freundlicher eingestellten Menschen in Lenys Umfeld sind sich vor allem selbst am nächsten. Eine benutzt ihren dementen Vater dazu, unliebsame Barbekanntschaften in die Flucht zu schlagen, ein anderer lässt das Haus seiner schwerbehinderten Mutter verkommen; die Baupläne für die Zeit „danach“ liegen bereits in der Küche. Leny behält den Kopf oben. Sie ist hilfsbereit, unermüdlich, sie sieht, wo sie gebraucht wird und findet fast immer eine entschuldigende Erklärung für die Unflätigkeiten, mit denen sie sich herumplagen muss. Sie ist die einsame Heldin, die sich von keiner Widrigkeit unterkriegen lässt und das Herz am rechten Fleck hat, eine Art weiblicher Holden Caulfield. So scheint es jedenfalls.
Doch die Autorin belässt es nicht bei der Konstellation „einsames Ich gegen Welt“; sie geht in der Demontage des Zwischenmenschlichen noch ein Stück weiter: Die beeindruckenden erzählerischen Qualitäten der Verfasserin beweisen sich vor allem darin, dass sie auch vor ihrer Hauptfigur nicht Halt macht. Man wundert sich doch irgendwann, dass ein Dreijähriger so lange stillhalten kann, man fragt sich, wie die Nachbarin die mit ein paar Gläsern Sekt gefeierte Wiederkehr von Lenys Ehemann mit einer lauten Party verwechseln kann und warum Leny nicht nur ihr Auto, sondern auch nach und nach ihren ganzen Hausrat verhökert. Die Figur spielt ein Versteckspiel mit ihren Mitmenschen und dem Leser, sie verschweigt Wesentliches und lügt, wo das nicht möglich ist.
Ein Versteckspiel mit dem Leser treibt aber nicht nur die literarische Figur. Ein Autorenfoto, auf dem man das Gesicht kaum erkennen kann? Eine Identität, der Google nicht einmal ansatzweise auf die Schliche kommt? Was an der biografischen Notiz über die als „Tania Naskandy“ firmierende Autorin von Sibiresch Eisebunn Wahrheit und was Dichtung ist, bleibt wohl einstweilen das Geheimnis des Verlegers.