Rund hundert Jahre. Rund dreihundertdreißig Seiten. Über fünfzig Autoren. Eine rein zahlenmäßig beeindruckende Bilanz für eine Anthologie, die sich vorgenommen hat, dem Leser einen Überblick über eine Regionalliteratur zu bieten, der sowohl im internationalen Diskurs als auch auf dem internationalen Buchmarkt nicht einmal eine marginale Bedeutung zukommt. Beeindruckend auch, weil in den Band nur Texte aus der doch recht kleinen Sparte „literarische Kurzprosa auf Deutsch“ aufgenommen wurden. Der hervorragende Romanautor und Servais-Preisträger Pol Sax fällt so leider durch das Raster. Wenn die Herausgeber von Zwischenland! Ausgucksland! dann obendrein noch versichern, sie hätten es mit ihrer Auswahl nicht auf Vollständigkeit abgesehen, sondern auf die „Repräsentativität der Texte im Schaffen des Autors sowie im literarhistorischen Kontext“ (wohlgemerkt dem der luxemburgischen Literarhistorie), wird sich so mancher erst einmal verwundert die Augen reiben.
Zugestanden, die Aufgabe, auf akademischem Niveau eine allgemein lesbare Anthologie zusammenzustellen, war nicht leicht. Es hätte sie auch niemand besser bewältigen können als Germaine Goetzinger und Gast Mannes, deren Verdienste um die luxemburgische Literatur und vor allem um die Luxemburgistik, also um die wissenschaftliche Erfassung der luxemburgischen Literatur, ungezählt sind. Auch gibt der Band tatsächlich einen ganz brauchbaren Überblick über das literarische Schaffen der Luxemburger in deutscher Sprache. Leider ist die Kehrseite dieser Leistung, dass dabei gleichzeitig deutlich wird, warum die luxemburgische Literatur jenseits der Landesgrenzen kaum wahrgenommen wird: Sie ist in der literarischen Landschaft noch viel kleiner als das Großherzogtum in der geografischen. Zumindest was die deutschsprachige luxemburgische Kurzprosa anbelangt, lässt sich das Fazit kaum vermeiden, dass man im Grunde nicht viel verpasst, wenn man sie nicht kennt.
Dass dem nicht so sein müsste, wird deutlich, wenn man sich die in der Anthologie nach Themen geordneten Texte in chronologischer Reihenfolge vor Augen führt: In der Zeit um den Ersten Weltkrieg bemühen sich Autoren wie Frantz Clément und René Leclère um einen dem deutschen Expressionismus verpflichteten Stil. Der Erzählduktus von Norbert Jacques erinnert stark an Arthur Schnitzler. Auch die Gesellschaftssatiren von Batty Weber und Pol Michels suchen die Nähe zum zeitgenössischen Diskurs. Doch die dreißiger Jahre und der Zweite Weltkrieg schieben diesen Bestrebungen der Luxemburger um eine Einbettung in die deutschsprachige Literatur der Nachbarländer einen Riegel vor. Die Folgen sind eine offenkundige Abkapselung der luxemburgischen Literatur von der deutschen, ein damit einhergehender erschreckender Stilschwund, ein oft stümperhaftes Herumgedruckse von der Sorte, wie man sie in Luxemburg mit dem Siegel „Pittis Schulaufsatz“ zu quittieren pflegt. Vom Expressionismus bleibt kaum mehr als ein ungutes Amalgam aus Kitsch, Pathos und ein paar ungelenken Alliterationen, während die Gesellschaftssatire ins Gutmütig-Lächerliche abrutscht. Die Anthologie enthält bis zu den sechziger Jahren wenige Ausnahmen von diesem Zurückrudern der luxemburgischen Literatur in deutscher Sprache, einen Text von Katrin C. Martin, sonst nicht viel.
Vor allem, was die sprachliche Ebene anbelangt, sieht es fast so aus, als wollten die Herausgeber von Zwischenland! Ausgucksland! die Jahrzehnte lang anhaltende Dürftigkeit der Textlage einfach nicht wahrhaben. Im Nachwort plädieren sie sogar dafür, die sprachliche Ausnahmesituation Luxemburgs, seine Zwischenstellung zwischen dem germanischen und dem romanischen Sprachraum zu berücksichtigen und die „Abweichungen vom Standarddeutschen“ nicht als Mängel, sondern im Sinne der „kreativen Flexibilität des Deutschen“ zu interpretieren – ein heikler Vorschlag, der schnell zum Freibrief für diejenigen Autoren werden kann, die nicht aus kreativem Übermut, sondern aus idiomatischer Unwissenheit „vom Standarddeutschen abweichen“.
Nach einer langen Durststrecke scheint Mitte der sechziger Jahre endlich wieder frischer Wind in den Literaturbetrieb zu kommen. In avantgardistischer Manier entdecken Autoren wie Albert Mambourg, Nic Weber und Roger Schiltz einen korrekten und unverstaubten Gebrauch der deutschen Sprache wieder; die Luxemburger Autoren sind offenbar bereit, sich der deutschen Literatur wieder langsam anzunähern.
Doch man muss sich schon bis in die achtziger Jahre zu den Beiträgen eines Jean Krier, Lambert Schlechter, Nico Helminger oder Guy Rewenig durchlesen, bis man merkt, in welchem Ausmaß vorher (und leider vereinzelt auch noch danach) Wust, Schwulst und schlechtes Deutsch gar nicht so uncharakteristische Merkmale der „literarischen Kurzprosa aus Luxemburg“ darstellen. Erst in den Texten aus den letzten zehn Jahren scheint eine Ahnung davon durch, dass sich die Luxemburger Literaten nicht mehr nur in Einzelfällen, sondern auch generell wieder um eine gepflegte Sprache und um eine Teilnahme an den literarischen Entwicklungen in den deutschsprachigen Nachbarländern bemühen. Einige der besten unter ihnen, Guy Helminger, Jean-Paul Jacobs und Raoul Biltgen zum Beispiel, haben das heimatliche „Zwischenland“ jedoch längst verlassen. Abgesehen vielleicht vom Namen merkt man ihnen, beziehungsweise ihrer Schriftsprache, wenn sie es nicht just auf das Gegenteil anlegen, nicht mehr an, dass sie ursprünglich Luxemburger sind. Schlechtes Deutsch als Stilmittel? Längst nicht mehr. Ein Glück.