Die Parabel, mit der man die Welt erzählt, wird nicht unschuldig gewählt. Jahrhunderte lang wurde die Gesellschaft als Pyramide mit einer reichen Spitze und einer armen Basis abgebildet; heute ist sie nur noch eine Scheibe ohne Mittelpunkt, mit einer diffusen Peripherie von Randgruppen. Mit diesem Verlust der dritten Dimension und mit den Fortschritten der Computergrafik und Drucktechnik lässt sich vielleicht die Verlagsmode erklären, aus den einstigen Enzyklopädien Atlanten zu machen.
Der Kölner Regionalverlag Emons, der einen Köln-, einen Nürnberg-, einen München- und einen Leipzig-Atlas auf den Markt brachte, veröffentlichte soeben Der Luxemburger Atlas du Luxembourg. Das Werk kam nicht nur mit Mitteln des Fonds national de la recherche, von Ceps/Instead und der Universität zustande, auch die Herausgeber Patrick Bousch (Ceps), Tobias Chilla (Uni), Philippe Gerber (Ceps), Olivier Klein (Ceps), Christian Schulz (Uni), Christophe Sohn (Ceps) und Dorothea Wiktorin (Uni Köln) wollen sich für die nötige akademische Ernsthaftigkeit verbürgen. Schließlich arbeitet die Universität seit Jahren daran, einen Digitalen multidisziplinären, interaktiven und dynamischen Atlas für Luxemburg und die Großregion Luxatlas ins Internet zu stellen.
Laut Schutzumschlag sollen in Der Luxemburg Atlas du Luxembourg „vielfältige Themen in eindrucksvollen Karten, Luftbildern und Fotos sowie in französischen und deutschen Texten präsentiert“ und „überraschende Einblicke und fundierte Informationen zu Geschichte, Stadtentwicklung, Umwelt, Mobilität, Gesellschaft und Kultur“ gewährt werden. Was sich die Herausgeber aber genau dabei dachten, ist nicht herauszufinden, denn es war weder Platz für ein Vorwort, noch für eine erklärende Einleitung zu dem doch uneinheitlichen Band. Deshalb dürfte mancher Leser erstaunt sein, wenn auf einen regierungsfreundlichen Beitrag über die aktuelle Entwicklungshilfepolitik (S. 20) unvermittelt ein sorgfältiger über die „Marktorte im alten Herzogtum“ (S. 22) folgt.
Viel Bedeutung wird der Entwicklung, der Bevölkerung, dem Verkehr und den öffentlichen Einrichtungen in der Hauptstadt beigemessen. Andere Ortschaften kommen dagegen selten oder gar nicht vor. Interessant sind besonders einige originelle Detailstudien, etwa über die Differdinger Landschaft (S. 110), die Kooperation der Softwarefirmen (S. 122) oder – derzeit aktuell – über das Braugewerbe (S. 124).
Andere Artikel sind oberflächliche und sehr unkritische Zusammenfassungen ohne präzise Quellenangaben, wie sie so oder so ähnlich seit Jahrzehnten durch die Literatur geistern. Im glaubensfesten Ton von: „Grâce à la vigilance des autorités politiques, les querelles accompagnant la Réforme épargnent la ville de Luxembourg.“ (S. 39) Dass ein Teil der Autoren von der Einrichtung beschäftigt werden, über die sie schreiben, schafft nicht gerade die kritische Distanz zum Thema, auf die ein Leser Anrecht hat.
Zudem könnten manche Beiträge so auch in Werbebroschüren eines Fremdenverkehrsamtes stehen und bekommen nicht durch eine bunte Karte oder ein kleines Diagramm den erhofften wissenschaftlichen Anstrich. Wobei man sich, wie meist in diesen Fällen, zudem Fragen nach Sinn und Nutzen vierfarbiger Landkarten über die geografische Verteilung der Kriegsdenkmäler (S. 29) oder der chinesischen Restaurants (S. 209) stellen kann – wenn beispielsweise für die Erwähnung von Parteien, Gewerkschaften oder der Nazi-Besatzung kein Platz ist. Sollte der Atlas sonst nichts lehren, dann vielleicht dass die Steuerzahler dank Universität, Lissabon-Strategie und Akademikerarbeitslosigkeit in der Großregion dabei sind, mit sehr viel Geld einen sehr staatserhaltenden und sehr technokratischen Forschungsbetrieb aufzubauen.