Erst seit wenigen Jahren wird verstärkt darüber gesprochen: Missbrauch an Kindern. Immer mehr Taten und Vorwürfe werden bekannt, ob im Dunstkreis der katholischen Kirche oder von Sportverbänden. Dabei geht die wissenschaftliche Forschung davon aus, dass die Mehrzahl der Taten von Menschen, weit überwiegend Männern, im engeren privaten Umfeld begangen werden. Bis das Thema auch in der Kunst aufgearbeitet wird, ist es ein steiniger Weg. Schuldzuweisungen an Kinder oder Jugendliche haben eine lange Tradition. Für die bösen Stiefväter aus den Märchen, die im stillen Kämmerlein Kinder missbrauchten, interessierte sich lange niemand.
Die Schriftstellerin Mandy Thiery hat nach ihrem Monodrama Escher Meedchen, das 2018 uraufgeführt wurde, das Thema des sexuellen Missbrauchs wiederaufgenommen. Escher Bouf, bei dem Carole Lorang Regie führt, rückt Gilles, den Bruder der vom Missbrauch betroffenen Mona, in den Mittelpunkt. Die andere Perspektive und die Positionierung des Familienumfelds haben Lorang daran gereizt, sodass es mittlerweile sogar eine Trilogie werden soll.
„Wie der Bruder Gilles mit seinen Schuldgefühlen aufwuchs und nicht in der Lage war, der Schwester zu helfen, und dass er dann ein tragisches Leben führt, das war mir wichtig zu erzählen. Auch diese Figur wurde mit zwölf Jahren gebrochen“, erläutert die Direktorin des Escher Theaters.
Die Stücke Escher Meedchen und Escher Bouf sind komplementär aufgebaut. Die Zuschauer/innen erleben den Missbrauch aus zwei Perspektiven. Kann man den Escher Bouf nicht ohne das Escher Meedchen verstehen? „Die Stücke funktionieren unabhängig voneinander. Es gibt aber Konfliktpunkte, die man besser nachvollziehen kann, wenn man beide Stücke gesehen hat. Man sieht den Escher Bouf dann in einem anderen Licht“, sagt der Schauspieler Max Thommes, der den Escher Bouf gibt.
„Die Sprache ist ein sehr wichtiger Faktor in beiden Stücken“, betont die Autorin des Stücks, Mandy Thiery. Sie habe sich bewusst für eine ungekünstelte Sprache entschieden, setzt auf den Alltagsjargon aus dem Minett. Die Figuren sprächen in kurzen und knappen Sätzen, so wie man sie im Alltag auch höre. „Es ist eine sehr eigene Sprache der luxemburgischen Grammatik“, sagt der Dramatiker Rafael Kohn, der verantwortlich für die Regie von Escher Meedchen ist. Der Text ziehe einen rein wie in einen Sog und behandele ein gesellschaftliches Thema, das im Theater oft vergessen oder ignoriert werde.
„Ich finde, das erste Stück, Escher Meedchen, hat etwas sehr Poetisches und das Zweite ist in der Sprache schon sehr rau“, erklärt Carole Lorang. Das hänge nicht zuletzt von den Figuren ab – die Autorin habe versucht, für jede Figur eine Sprache zu finden, assoziiere die Alltagssprache aber auch damit, wie in bestimmten Milieus geredet werde, gerade im Süden Luxemburgs, wo nicht lange um den heißen Brei herumgesprochen werde. Es sind nicht zuletzt autobiografische Erfahrungen, die die Autorin in dem Stück verwebt.
Die beiden Hauptdarsteller reizte die Rollen aus ganz unterschiedlichen Gründen. „Die Figur, die ich verkörpere, ist glaube ich sehr weit weg von meinem täglichen Sein. Ich mag es, etwas zu spielen, was nicht ich bin“, sagt Max Thommes.
Für sie sei immer wieder ausschlaggebend: „Wie sehr trifft und berührt mich das“, erzählt Brigitte Urhausen über ihre Rolle des Escher Meedchens. „Hier war das der Fall. Mona ist eine wahnsinnig tragische Figur, aber sie ist trotzdem eine Kämpferin.“ Sie habe es wirklich ganz allein geschafft, ihr Leben in den Griff zu kriegen. Spannend sei die Rolle des Escher Meedchens für sie nicht zuletzt wegen Monas Ringen um Selbstbestimmung.
Mona und Gilles sind aus dem Leben gegriffene Charakter, sie entstammen einer „normalen Familie“, die ein Familiengeheimnis mit sich trägt. So ist der Escher Bouf Gilles recht durchschnittlich. Er hat eine Familie, zwei Kinder, arbeitet beim Staat. Er führt ein geregeltes Leben.
Einige der Proben seien von Psychologen besucht worden, die dem Team erklärt haben, wie eine Opfer-Täter-Beziehung entstehe, was das mit den anderen Mitgliedern einer Familie mache und wie diese damit umgingen. „Sie haben uns auch erzählt, dass 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung direkt von dieser Missbrauchsthematik betroffen sind. Das sind sehr viele. Es kommt also in ganz normalen Familien vor“, sagt Carole Lorang. Ob es dem Team darum gehe, das Thema gesellschaftlich zu enttabuisieren? „Ich glaube schon, dass es noch immer ein großes Tabu ist“ – für die Autorin ist es wichtig, dieses aufzubrechen. „Als Regisseurin will ich aber auch zeigen, dass so etwas einen nicht daran hindert, sein Leben zu leben und auch etwas zu erreichen.“
Trotz der Thematik wirkten Escher Meedchen und Escher Bouf aber auch über Humor. Es gibt gar witzige Stellen ... Es gäbe etwa einen Arbeitskollegen vom Escher Bouf, gespielt von Marc Baum. Wenn diese beiden Männer aufeinandertreffen und der Arbeitskollege versucht, ihn mit seiner toxischen Männlichkeit aufzubauen, das habe schon etwas Komisches, erzählt Lorang. „Escher Bouf hatte ich erst einmal gelesen, konnte aber schon erkennen, dass man in der größten Tragik humorvolle Momente findet, was natürlich auch an der Zeichnung der Figuren liegt. Es ist auch ein bisschen schwarzer Humor manchmal. Letztlich ist es eine Überlebensstrategie. Wie so oft im Leben“, sagt Brigitte Urhausen.
Wer sich das Stück ansehe, würde sicher danach weiterdiskutieren. Im Rahmen einer geplanten Schulvorstellung gebe es zudem ein Nachgespräch. Da sei sicher auch die eine oder andere darunter, die das erlebt habe. So gebe man den Schüler/innen vielleicht das Gefühl: Ihr seid nicht allein.
Kindesmissbrauch passiert, und es passiert öfters, als man es glaubt. „Es ist das Beste, um einen Heilungsprozess in Gang zu bringen, wenn man das Gefühl habe, man kann es aussprechen“, sagt Carole Lorang.