d‘Land: Herr Minister, das Budget 2008 der Krankenkassenunion wurde erneut ohne Beitragserhöhungen oder Leistungsabbau beschlossen, doch das finanzielle Gleichgewicht gilt als „fragil“. Im Finanzministerium wird unterdessen darüber nachgedacht, zur Sanierung des defizitären Zentralstaats den Fiskalanteil an der Sozialversicherung zu senken. Wenngleich das kaum vor dernächsten Legislatur passieren wird – ist es für Sie schon heute ein Faktor bei ihren Bemühungen um mehr Qualität und Effizienz im Gesundheitssystem?
Mars Di Bartolomeo: Ich kann keine Gedanken lesen. Für mich jedenfalls steht fest, dass es keine Alternative zu einem starken Engagement des Staats in unserem Sozialsystem gibt. Das Sozialsystem kostet den Staat nicht nur Geld. Es bringt soziale Kohäsion, Lebensqualität, viele und gute Arbeitsplätze und wirdmehr und mehr auch zum Wirtschaftsfaktor. Die Diskussionen umEffizienz und Verantwortungsübernahme durch alle Beteiligten beginnen nicht erst in der nächsten Legislatur. Die Methode hat bei den Krankenkassen positiv gewirkt. Und die Tripartite beschloss zum Beispiel, den Staatsbeitrag zur Pflegeversicherung einzufrieren und den Versichertenbeitrag zu erhöhen. Das war eine Maßnahme zur Wiederherstellung der Manövrierfähigkeit des Staates. Probleme, die auf unser Sozialsystem zukommen, löst man nicht durch die Zerschlagung oder den Abbau des Systems, sondern durch einen überlegten Umbau des Systems.
Umbau wohin?
Wir müssen öffentlich diskutieren, was uns verschiedene Leistungenwert sind. Das läuft erst ansatzweise. Soll zum Beispiel in der Prävention mehr getan und mehr Früherkennung angeboten werden, muss man die Finanzierungsfrage stellen. Und ich glaube, dass hier die Versicherten bereit sind, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Ein Plädoyer für den Übergang zum französischen Modell aus allgemeinen Krankenkassen und Mutualitäten?
Nein. Ich halte am Solidarsystem fest und muss sagen, dass in der aktuellen Regierungsmannschaft dafür viel Verständnis herrscht. Diskutieren lassen will ich aber, inwiefern neue, zusätzliche Leistungen über neue Wege finanziert werden könnten.Zum Beispiel die teuren Zahnersatzleistungen über einen „centime dentaire“.
Ist ein LSAP-Sozialminister vonnöten, um durchsetzen zu helfen, dass Leistungen nicht mehr paritätisch finanziert werden?
Das ist eine Unterstellung! Die aktuellen Leistungen sind nicht betroffen, die paritätische Finanzierung ebenfalls nicht. Wenn ich jedoch sehe, dass notwendige neue, zusätzliche Leistungen schon im Ansatz abgeblockt werden, weil Staat und Betriebe nicht zusätzlich belastet werden dürfen, dann darf es doch erlaubt sein, über neue Modelle nachzudenken. Modelle im bestehenden Sozialsystem und nicht außerhalb.
Unsere Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben sind derzeit die zweithöchsten weltweit, ohne dass unser System viel besser wäre als die anderen. Welchen Handlungsbedarf sehen Sie?
Das ist auch eine Frage der Betrachtungsweise: Die Gesundheitsausgaben am BIP sind vergleichbar mit denen anderer EU-Staaten. Ich stimme aber grundsätzlich zu: Wir müssen besser werden. Unser Eindruck ist, dass das Luxemburger Gesundheitssystem im Weltvergleich einen ganz ehrenwerten Platz einnimmt. Die Infrastrukturen sind sehr hochwertig, der Ausbildungsstand von Ärzten und Pflegepersonal ist sehr gut, ihre Zahl im Verhältnis zur Einwohnerzahl ist in Ordnung, der Zugangzu den Gesundheitsleistungen ist ausgezeichnet. Doch weil wir die Resultate noch nicht oder unzureichend messen, haben wir bisher nur ein Gefühl für die Leistungsfähigkeit unseres Systems. Das betrifft vor allem den Krankenhausbereich. Wir kommen aber weiter. Wir sind dabei zu klären, wie man Diagnosen und Behandlungsverläufe einheitlich kodiert. Für das Patientendossier liegt ein Entwurf zur Standardisierung vor, teuren Zahner derzurzeit diskutiert wird. In einer zweiten Phase wird das Patientendossier computerbasiert. Mit den dann gemessenen Resultaten erzielt man Transparenz – auch Produktionskostentransparenz, wenn man ein Spital als Unternehmen auffasst, und das tue ich. Die Spitäler sollen sich anschließend untereinander vergleichen und, weshalb nicht?, auch mit Häusern im Ausland. Wie ich es auf der Pressekonferenz nach dem CHL-Audit Mitte Oktober gesagt habe, fangen wir mit Audits der Services nationaux an – und das schnell.
Vielleicht schon nächstes Jahr?
So schnell wie möglich.
Wie können die Ärzte hinter einen Qualitätsansatz gebracht werden? Artikel 7 ihres Deontologie-Kodex’ erlegt ihnen immerhin auf, sich von niemandem ihre berufliche Unabhängigkeit beeinträchtigen zu lassen.
Ich bin nicht dafür, dass man einen Aufseher neben jeden Arzt stellt.Therapiefreiheit muss jedoch im Einklang mit dem Interesse des Patienten stehen: der bestmöglichen Behandlung.
Fürchten Sie nicht, dass dann das System als Solidarsystem unbezahlbar werden könnte?
Nein. Qualität und Effizienz sind durchaus vereinbar. Die Häusermüssen sich Gedanken machen, wie sie ihre Ärzte organisatorisch besser einbinden können. Und die Ärzte müssen sich bewusst sein, dass sie Bestandteil eines Ganzen sind.
Wäre es nicht am Gesundheitsminister, Vorgaben zu machen? Ärzteverband AMMD und Klinikverband EHL haben zwei Jahre über einen „Médecin-coordinateur“ diskutiert, wurden sich aber nicht einig.
Sie sind sich aber sehr nahe gekommen. Wir werden in der neuen Spitalreglementierung die Verantwortung von Verwaltungsräten, Direktion und Ärzten klarer regeln. Auch die Rolle des „Médecin-coordinateur“. Nach der letzten Krankenkassen-Quadripartite gab es außerdem ausgezeichneteGespräche zwischen EHL und AMMD und man vereinbarte, dass die Klinikärzte sich Peer reviews stellen sollen.
Das heißt, über die Betriebskultur würde dafür gesorgt, dass Qualität und Effizienz garantiert sind?
Ja. Aber nicht nur. Behandlungsprozeduren, Dokumention und Transparenz, Benchmarkings intern und extern, Aufgabenteilung und Spezialisierung sind weitere Prioritäten.
Sind Sie sicher, dass man mit dem Ansatz „Betriebskultur“ auch in großen Häusern auf organisierte Weise für Qualität und Effizienz sorgen kann? Im CHL klappt es, wie wir gesehen haben, trotz fest angestellter Ärzte nicht richtig.
Im CHL wie in den anderen Häusern wird durchaus gute Medizingeboten, auch wenn es punktuell Probleme geben kann. Ich bin aberüberzeugt, dass eine Einflussnahme durch die Betriebskultur funktionieren kann. Bedenken Sie die jüngste Geschichte des Sektors. Es ist nicht lange her, da waren die Spitäler klein, zersplittert, hatten Träger mit sehr verschiedenen Vorstellungen. Dagegen war die Entwicklung in den letzten Jahren außerordentlich dynamisch mit Synergiebildungen und Fusionen. Ich gehe davon aus, dass jeder Arzt Verantwortung übernimmt für die Klinik,der er angehört – ob als Belegarzt oder fest angestellt. Ich kann mirvorstellen, dass man durch Prämien zum Budget jene Spitäler honoriert, die besonders hohe Qualitäts- und Effizienzleistungen bringen, und ich kann mir ebenso vorstellen, dass die Tarifnomenklatur für die Ärzte so abgeändert wird, dass man siezumBeispiel dafür bezahlt, an multidisziplinären Teams mitzuarbeiten, wo es nicht direkt einen abrechenbarenAkt zu leisten gibt. Positive Anreize für Qualität und nichtfür Quantität sind sinnvoll und nötig. Und man sollte nicht so tun, alsob sich in Sachen Qualitätssicherung nichts getan hätte.
Müsste dieses Anreizsystem für Ärzte nicht mit sich bringen, die gesamte Nomenklatur zu überdenken und mit ihr so manche Ungereimtheit im Honorar je nach Spezialisierungsrichtung?
Jein. Diese Aspekte sind nicht unmittelbar voneinander abhängig.Sicher ist die Nomenklatur eine Riesen-Baustelle. Es wäre illusorisch zu glauben, man könne von heute auf morgen die Nomenklatur reformieren. Aber man muss es angehen. Was ich dazu anstrebe, sind eine stärkere Zusammenarbeit von Gesundheits- und von Sozialministerium und Verknüpfungen zwischen Krankenhaus- und Krankenkassengesetzgebung. Die neue Krankenkasse, die wir aufgrund des Einheitsstatuts werden bilden können, wird auch mit genügend Fachpersonal ausgestattet werden. Unsere aktuelle Nomenklatur ist teilweise ungerecht und kontraproduktiv. Das wissen auch die Ärzte, wenngleich diejenigen, die am meisten davon profitieren, es noch nicht verstehen.
Glauben Sie, derart hochpolitische Reformen bis zum nächsten Wahlkampf abschließen zu können?
Realistischerweise wird diese Gesetzesänderung wohl nicht mehr indieser Legislatur verabschiedet werden, aber voranbringen will ich sie. Der neue Spitalplan dagegen wird kurzfristig vorgelegt.
Wie wird sich ein, wie Sie es selbst nennen, unternehmerischer Qualitätsansatz mit dem Spitalplan vertragen? Wenn ein SpitalQualität entwickeln soll, müsste es aufgrund der Resultate, die künftig gemessen werden sollen, auch entscheiden können, diese oder jene Aktivität auszuweiten, andere aufzugeben. Wie „planbar“ ist das?
Solche Entscheidungen sollte ein Spital treffen können, abgestimmtauf die Bedürfnisse der Bevölkerung und im Einklang mit der Carte sanitaire, die jährlich eine „Fotografie“ der Klinikaktivitäten liefert. Das sollte zu klinischen Kompetenzzentren in bestimmten Bereichen führen. Man hätte Pflegeketten je nach Pathologie, und die schwierigsten Fälle kämen im Kompetenzzentrum an. Wir haben bereits heute solche Zentren in der Herzchirurgie, der Strahlentherapie, der Rehabilitation. Die Aufgabenteilung in der Psychiatrie geht in eine ähnliche Richtung. Wir sind dabei, Guidelines für die Behandlung einzelner Krebsarten und von Gehirnschlägen zu definieren. Das schließt natürlich ein, dass esin jedem dieser Zentren Chirurgie und Innere Medizin geben wird. Bei schwierigen Fällen aber müsste man sich in den einzelnen Spitälern jeweils darüber im Klaren sein, für welchen Patient man sich zuständig fühlen kann und welchen man an ein anderes Haus überweisen muss. Ich bin zuversichtlich, dass das klappen wird – die Diskussionen um das CHL in den letzten Monaten haben einige Türen für die Kooperation unter den Spitälern geöffnet.
Werden die Spitäler je nach ihren Kompetenzen Arztpersonal frei rekrutieren können, oder ginge das dem Sozialminister zu weit? Sie hatten ja die Kliniken vor zwei Jahren zur Zurückhaltung aufgerufen. Zurzeit erfolgt die Rekrutierung weitgehend frei.
Ich kann keinem Arzt verbieten, hier seinen Beruf auszuüben. Ich hatte vor zwei Jahren zu bedenken gegeben, dass die Rekrutierung der Klinikärzte an den Häusern nicht zu Mehrfachdiensten in sehr spezialisierten Bereichen führen dürfe – also dazu, dass tatsächlich „jeder alles macht“. Es muss Spezialisierung und Aufgabenteilung geben. Darauf will ich ebenfalls mit einer reformierten Spital- und Krankenkassengesetzgebung einwirken.
Zurzeit wird an einer EU-Rahmendirektive über Gesundheitsdienstleistungen und Patientenmobilität gearbeitet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein paar heute noch bestehende Barrieren für Krankenhausbehandlungen im Ausland fallen. Damit gerieten die Spitäler EU-weit unter Wettbewerbsdruck. Könnten dieLuxemburger Häuser darin bestehen?
Die Patientenmobilität wird sicher nicht sinken und die „EU-Komponente“ auch im Gesundheitswesen zunehmen. Angesichts der schon heute zahlreichen Überweisungen zu Auslandsbehandlungen müssen wir unbedingt zeigen, was man bei uns bei hoher Qualität ebenso bekommen kann wie im Ausland. Auch deshalb soll es Veröffentlichungen zu den Krankenhausaktivitäten mit behandelten Fällen je nach Pathologiengeben. Die Patientenzufriedenheit muss man ebenfalls systematischermessen.
Wenn man dann versuchte, ausländische Patienten nach Luxemburg zu ziehen – würde sich nicht auch die Frage nach dem Preis der Leistung im Spital stellen, und wären die Luxemburger Häuser dann nicht zu teuer angesichts der hohen Personalkosten?
Diese Hürde könnte sich stellen. Aber es gibt den EU-weiten Wettbewerb noch nicht, und ich denke, Priorität für uns muss eine Verbesserung der Visibilität unserer Leistungen haben. Ich meine, wir sind ein Hochlohnland, und wer eine Diskussion anfängt über die Gehälter des Pflegepersonals, müsste diskutieren über die Höhe der Gehälter à tous azimuts im Lande. Das ist nicht meine Absicht. Ich stelle auch nicht die Einkünfte der Ärzte in Frage.
Vergangene Woche präsentierte der Ärzteverband Vorschläge für ein No-fault-Haftungssystem. Eine gute Idee?
Ein interessanter Vorschlag, der noch zu vertiefen ist. Der Patient könnte Schadenersatzansprüche leichter geltend machen. Hält ein nicht-punitiver Haftungsansatz in die Betriebskultur der Kliniken Einzug, kann man eine Fehlerberichterstattung einrichten, umaus Fehlernzu lernen. Aber: Das darf kein Freibrief für die Ärzte sein und sollte nicht dazu dienen, ihnen Versicherungskosten zuersparen. Vor allem darf es nicht vertrauensbildende Maßnahmen ersetzen, die nötig wären. Die AMMD hat ihre Zustimmung zur Einrichtung einer Mediationsstelle für Patientenbeschwerdenbisher davon abhängig gemacht, dass wir No fault einführen.Ich bin der Meinung, es geht nicht immer um Geld und die Mediationsstelle sollte Vorrang haben.
Die AMMD schlägt vor, Staat und Krankenkassen sollten, wie in Belgien, gemeinsam mit den Versicherungen einen Fonds speisen, aus dem die Schadenersatzansprüche bezahlt würden.
Das müsste man im Rahmen einer Paketlösung beurteilen. Auf jedenFall sollte niemand einseitig aus seiner Verantwortung entlassen werden. In Belgien ist die Inkraftsetzung des neuen Gesetzes soebenum ein Jahr vertagt worden.