Am 27. Juni kam der Disziplinarausschuss des Collège médical zu einem Verdikt, das Folgen haben wird. Vor dem Selbstkontrollorgan der
Ärzteschaft stand ein Allgemeinmediziner, der sich systematisch geweigert hatte, am Nachtersatzdienst teilzunehmen. Eine Unverschämtheit, könnte man meinen. Denn die Teilnahme am „Service de remplacement de nuit“ sollte für alle Generalisten verbindlich sein; so sieht es die Konvention vor, die das Gesundheitsministerium mit dem Ärzteverband AMMDabgeschlossen hat. Seit 2002 sind an den jeweils
diensthabenden Krankenhäusern im Norden, im Zentrum und im Süden des Landes montags bis freitags zwischen 22 und sechs Uhr zwei
Allgemeinmediziner in Bereitschaft, im Zentrum drei. Bei Bedarf bringt ein Auto mit Chauffeur sie zu Patienten, die nicht in die Klinik kommen können, beziehungsweise zu kleineren Notfällen, zu denenes nicht nötig ist, einen Samu-Notarztwagen ausrücken zu lassen.
Doch der Collège médical kam zu dem Schluss, kein Sanktionsmittel gegen diesen Arzt in der Hand zu haben. Die Konvention über den
Nachtersatzdienst beziehe sich auf das Gesetz über die Ausübung des Medizinerberufs, in dessen Artikel 6 geschrieben steht: „Le médecin
établi au Luxembourg est tenu de participer au service médicale d’urgence“. Das Problem ist nur, dass dieser Satz folgendermaßen
weitergeht: „dont l’organisation et les modalités sont fixées par reglèment grand-ducal à prendre sur avis du Conseil d’État“. Und das ist noch nicht geschehen, obwohl das Gesetz schon von 1983 datiert und 1995 zumTeil reformiert wurde.
Nicht, dass Ärzteschaft und Gesundheitspolitikern diese Rechtslückeunbekannt gewesen wäre und der Collège médical noch nicht auf sie hingewiesen hätte. Erstmals aber hat er ein Disziplinarverfahren in dieser Frage derart konsequent durchgezogen – bis zum absehbaren Ende.
Sein Verdikt ist daher auch ein politisches und ein Signal an den Gesundheitsminister: Ohne die seit 24 Jahren überfällige
Ausführungsbestimmung gibt es womöglich wieder Ärger. Zumal, laut Collège médical, so lange auch jener Abschnitt des ärztlichen Code de déontologie ohne legale Basis ist, der die Mediziner zur Teilnahme an „services de garde“ generell anhält. Womit auch Bereitschaftsdienste an Krankenhäusern gemeint sind.
Damit ist eine Kernfrage der Gesundheitsversorgung gestellt: Wasist unter der „Continuité des soins“ zu verstehen, und inwiefern kann und soll eine überwiegend freiberuflich tätige Ärzteschaft auf einen „Service public“ festgelegt werden, den sie bislang überwiegend unentgeltlich erbringt?
Denn geregelt durch eigene Gesetze sind die Samu-Rettungsdienste, ihre Verzahnung mit dem Zivilschutz und derNotrufzentrale 112. Da die
Samu-Dienste im Norden, Zentrum und Süden des Landes jeweils „Antennen“ der diensthabenden Krankenhäuser sind, haben die Kliniken festgelegt, welchen Staff sie permanent bereithalten müssen, um die Funktion des Hauses abzusichern. Die schwierigen Fragen stellen sich ein paar Dringlichkeitsstufen weiter unten. Prinzipiell ist jeder Arzt verpflichtet, für die „Continuité dessoins“ der ihm anvertrauten Patienten zu sorgen. Deshalb organisieren die Allgemeinmediziner landesweit tagsüber einen Ersatzdienst für abwesende Hausärzte. Dieser Dienst ist freiwillig, seine regionale Koordination wird nicht vergütet, die Ärzte können, müssen aber nicht die Liste der zumErsatz bereitstehenden Kollegen an die Notrufzentrale geben.
Um dieses Angebot nachtsüber zu systematisieren, wurde der Nachtersatzdienst geschaffen, bei dem der teilnehmende Arzt den Aufwand
mit knapp 400 Euro vergütet erhält. Wer oft gerufen wird, verdient zusätzlich an den Behandlungsakten. Wie der Stand der Verhandlungen
zwischen Gesundheitsministerium und AMMDsich derzeit verhält, soll der Ersatzdienst ab Anfang 2008 ganztags auf die Wochenenden und die Feiertage ausgedehnt werden und wochentags bereits ab 20 Uhr beginnen.
Vielleicht ließe sich diese Regelung ja nicht nur in einer neuen Konvention zwischen Staat und Ärzteverband festhalten, sondern auch in eine
Ausführungsbestimmung zum Ärztegesetz gießen – wenn nicht die Frage nach der Absicherung der Pflege-Kontinuität sich in den Krankenhäusern noch anders stellen würde. Es ist kaum ein Zufall, dass mit Jean-Paul Schaaf der Ettelbrücker Député-maire von der CSV vom Gesundheitsminister unmittelbar nach der Entscheidung des Collège médical in einer parlamentarischen Anfrage wissen wollte, wie er weiter vorzugehen gedenke. Schaaf ist Verwaltungsratspräsident des Centre hospitalier Saint-Louis. Und wenn er wissen will: „Les médecins-spécialistes qui n’exercent pas à l’hôpital, sont-ils dispensés de la participation au service de garde et de remplacement et le cas echéant pourquoi?“, dann stellt er eine Frage, die sämtliche Klinikdirektionen im Lande interessiert.
Keine von ihnen will sagen, dass sie Probleme hätte mit den Bereitschaftsdiensten. Aber die Kontinuität der Behandlungen durch die
Spezialisten in den Spitälern unterliegt – abgesehen vom Notdienst-Staff – der gleichen kollegialen Logik und dem Gratisprinzip wie der Tagsüber-Ersatzdienst der Hausärzte. Reihum halten sich die Mediziner nach Feierabend daheim in Rufbereitschaft, um in dem
Krankenhaus, für das sie arbeiten, entweder nach ihren eigenen Patienten zu sehen, falls nötig, oder nach denen eines Kollegen. Auch im Centre hospitalier de Luxembourg, das hauptsächlich, aber nicht nur, mit fest angestellten Medizinern arbeitet. Die Leistung wird völlig unentgeltlich erbracht, weil ja die öffentliche Hand für den Bau der Kliniken und deren Ausstattung mit schwerer Technik aufgekommen
ist, welche die – freiberuflichen – Krankenhausärzte unentgeltlich nutzen können, räsonierten Gesundheitsministerium und Krankenkassenunion bisher.
Doch als im Januar der grüne Abgeordnete Jean Huss in einer parlamentarischen Anfrage an den Gesundheitsminister meinte: „Certains
hôpitaux, notamment du nord et du sud du pays, semblent rencontrer de plus en plus de difficultés pour assurer le fonctionnement de certains
services spécialisés comme par exemplela médecine dentaire ou l’ophtalmologie“, antwortete Mars Di Bartolomeo: „Il est bien vrai que
ces dernier temps les difficultés pour l’hôpital de garde de trouver pour l’une ou l’autre spécialité des médecins prêts à assurer la
disponibilité vont en augmentant.” Und das finden, hinter vorgehaltener Hand, so manche Klinikdirektoren dann doch „eine Sauerei“.
Aber die Ursachen sind vielfältig. Sie haben etwa zu tun mit einer geografisch ungleichen Verteilung von Spezialisten auf darüber hinaus
unterschiedlich dicht besiedelte Regionen. Wahrscheinlich ist die Lage heute nicht viel anders als 2003, als der damalige
gesundheitspolitische Sprecher der CSV-Fraktion, Jean-Marie Halsdorf, in einer Erhebung für die Abgeordnetenkammer einerhebliches
„Déséquilibre régional“ ausmachte, demzufolge 40 Prozent aller Spezialisten-Mediziner auf die Hauptstadt konzentriert waren. Im von
der potenziellen Patientenzahl her größten Klinik-Einzugsgebiet des Landes gibt es für den in Rufbereitschaft stehenden Arzt vermutlich
auch genügend viele Einsätze, um an den Behandlungsakten so viel zu verdienen, dass der Aufwand sich lohnt.
Denn die Frage: „Was bringt mir das?“ wird immer häufiger gestellt.Was auch der Gesundheitsminister weiß: „Il est un fait que pour certains
spécialités moins sollicitées pendant les periodes de garde les hôpitaux éprouvent de plus en plus de difficultées pour trouver des médecins disposés à participer au service de disponibilité. Tel est notamment les cas de la spécialité de l’ophtalmologie”, stellte er auf die Huss-Anfrage hin fest. Hinzu kommt jedoch, dass es Spezialisten gibt, die in ihren Praxen einen so hohen Umsatz erwirtschaften,so dass sie gar nicht mehr anstreben, noch Belegarzt in einem Spitalzu sein. Vor allem solche Mediziner, die ohne großen technischen Apparat auskommen, oder den, den sie brauchen, in ihrer Praxis zur Verfügung haben. Die Logik, eine schlimmstenfalls ohne jede Einnahme abgeleistete Rufbereitschaft sei die Gegenleistung zum Klinik-Equipment, bricht an dieser Stelle.
Dass die Probleme offenbar viel mit Verdienstmöglichkeiten zu tun haben, ist kein schöner Anblick, aber systembedingt: Nur für dem Permanent-Staff werden Pauschalen über die Klinikbudgets gezahlt, der Samu-Einsatz der Fachärzte für Anästhesie und Reanimation wird auch als individueller Behandlungsakt vergütet. Wahrscheinlich wird kein Weg daran vorbeiführen, auch den Bereitschaftsdiens tliberaler Spezialisten aufzuwerten. Fragt sich nur wie. Der Nachtersatzdienst der Hausärzte wird derzeit nicht über die Krankenkasssen, sondern aus dem Staatsbudget finanziert.Kostenpunkt dieses Jahr: 1,8 Millionen Euro. Ab 2008 werden es mehr werden, und ob der Budgetminister zustimmt, auch Klinikmedizinern etwas zu geben, ist zumindest fraglich. Bliebe der Weg über die Klinikbudgets, oder der, in der Arzttarif-Nomenklatur ganz neue Leistungen zu definieren. Ersterer würde die Krankenkassenausgaben zwangsläufig erhöhen. Letzterer vielleicht auch, aber nicht unbedingt: Das geltende Tarifssystem will, dass viel verdient, wer viel arbeitet; der Begriff „öffentliche Dienstleistung“ fehlt. Ebenso aber fehlt beispielsweise ein Anreiz zur Mitarbeit in interdisziplinären Teams, wie sie immer wichtiger werden, je mehr die Klinikaktivitäten in die Tiefe wachsen statt in die Breite. Vereinfacht gesagt: Zurzeit ist die Teilnahme an einer fachübegreifenden Ärzte-Arbeitsgruppe in einem
Krankenhaus ähnlich „unattraktiv“ wie eine Rufbereitschaft.
Eine solche Reform liefe freilich für den Gesundheitsminister nicht nur darauf hinaus, per Gesetz an der Tarifnomenklatur zu drehen, die
eigentlich der Autonomie von AMMD und Krankenkassenunion unterliegt. Weil die Tarife auch ein historisches Abbild der Verdienstwünsche von Spezialistensparten sind, die sich der Reihe nach für unterbezahlt hielten, wäre geradezu eine Totalreform der Nomenklatur angesagt. Und das dürfte politisch ein schwieriger Gang werden.
Aber abgesehen davon, dass solche Fragen sich stellen müsste, wer den Bereitschaftsdiensten zu der seit fast 25 Jahren fehlenden legalen Basis verhelfen will, ist noch aus einem anderen Grund gewisse Eile geboten. Der Reiz der Freiberuflichkeit kann für Klinik-Belegärzte auch darin liegen, Rufbereitschaft geleistet zu haben, zweimal aus dem Bett geholt worden zu sein, kaum mehr geschlafen zu haben, am nächsten Tag
eine schwierige Operation vornehmen zu müssen. Denn für Freiberufler gelten keine maximalen Wochenarbeitszeiten oder eine
Mindestruhezeit. Sie ihren Belegärzten durch interne Vorkehrungen zu garantieren, überfordert die Kliniken. Zumal dann, wenn es
ohnehin an Ärzten für manche „services de garde“ mangelt. Und die EU-Arbeitszeitdirektive, die Festlegungen trifft für Mediziner im
Bereitschaftsdienst, gilt eben nur für die mit Arbeitsvertrag.
Allerdings wurde der EU-Gerichtshof bisher auch noch nicht um Klärung ersucht in einem Fall, wo etwa ein Klinikbelegarzt für einen Fehler zur Verantwortung gezogen werden sollte, der nachweislich auf fehlenden Schlaf aufgrund eines Einsatzes zurückzuführen gewesen wäre, der fest angestellten Ärzten nicht ohne weiteres abverlangt werden dürfte. Im EU-Ausland sind Mediziner-Haftpflichtversicherungen für dieses Thema mittlerweile sehr sensibel.