Eine gute Nacht wünschte sie sich vergeblich. Nacht um Nacht tat Marianne* kaum ein Auge zu, sie wachte auf und konnte nicht wieder einschlafen. Nach drei Wochen Schlafentzug war die Büroangestellte so gerädert, dass sie zum Arzt ging. Der fackeltenicht lange und verschrieb ihr kurzerhand ein Beruhigungsmittel. Das solle sie einnehmen, „bis es besser wird“. Über alternative Methoden verlor der Arzt kein Wort. Marianne ging und kam nicht wieder. Die Arznei schmiss sie in den Mülleimer.
Fälle wie Marianne gibt es viele, allerdings enden sie oft anders. Eine Studie des Psychiaters Jean-Marc Cloos aus dem vergangenen Jahr, die den Gebrauch von Schlaf- und Beruhigungsmitteln untersucht hat, zeigt: Schlaf- und Beruhigungsmittel, im Fachjargon Benzodiazepine genannt, werden in Luxemburg verhältnismäßigoft verschrieben. Zu oft. Über einen Zeitraum von zehn Jahren (1995-2004) hatten über 166 000 Personen mindestens einmalSchlaf- oder Beruhigungsmittel bekommen. Das ist mehr als einDrittel der Gesamtbevölkerung.
Die Einnahme von Benzodiazepinen ist bei fachgerechter Anwendung an sich kein Problem. Denn eigentlich handelt es sichdabei ummedizinisch bewährte, gut verträgliche Medikamente,die helfen können, Beschwerden wie Schlafstörungen oder Angstzustände zu behandeln und kurzfristige Krisen zu überbrücken. „Bedenklich ist aber, dass von denen, die einmal mit Benzodiazepine begonnen haben, 40 Prozent nicht wieder damit aufhören“, so Jean-Marc Cloos im Gespräch mit dem Land. Über 70 000 Personen, das entspricht 15,4 Prozent der Gesamtbevölkerung, so das Ergebnis seiner Datenanalyse, hätten einen „problematischen Konsum“. Sie nähmen Schlaf- und Beruhigungsmittel mehr oder weniger regelmäßig und über einen längeren Zeitraum ein. Rund 3,2 Prozent der chronischen Konsumenten (0,4 Prozent der Bevölkerung) schlucken mehr als 31 Milligramm täglich. „Das ist enorm viel“, gibt Cloos zu bedenken. „Von ihnen kann manmit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass sie abhängig sind.“
Dass übermäßiger Konsum von psychotropen Medikamenten (Benzodiazepine, Tranquilizer, Antidepressiva und Neuroleptika) gesundheitsschädigend ist und unter Umständen sogar abhängig machen kann, ist bekannt. Medizinische Untersuchungen haben den Zusammenhang zwischen Höhe der Dosis und Dauer der Einnahme von Benzodiazepinen auf der einen Seite und die Ausbildung einer Sucht auf der anderen klar bestätigt. Die Langzeiteinnahme, schreibt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in einer Informationsbroschüre für Patienten, könne „relativ schnell zu einer körperlichen Gewöhnung und Toleranzsteigerung führen“. Eine gefährliche Spirale: Die Tatsache, dass bei gleich bleibender Dosis die bekannten Beschwerden wiederkehren, wird teweilweise von den Betroffenen mit einer Verschlechterung des Gesundheitszustands verwechselt und, in Folge dessen, wird die Dosis weiter erhöht (rebond-effect). Die körperliche Abhängigkeit hat begonnen. Jeder zweite, das habenamerikanische Studien herausgefunden, entwickelt bei einer Niedrigdosis Symptome von Abhängigkeit, die eine rasche Absetzung erheblich erschweren – kontinuierlichen Konsum überMonate vorausgesetzt. Von einem schlagartigen Entzug ist ohnehin abzuraten: Neben typischen Entzugserscheinungen wie Schwindelattacken, Schlafstörungen und erhöhten Angstgefühlen drohen im schlimmsten Fall Suizidimpulse und regelrechte Entzugspsychosen.
In den USA und der Schweiz haben Gesundheitspolitiker aus den Erkenntnissen Lehren gezogen: Benzodiazepine dürfen dort nicht länger als vier Wochen verschrieben werden. In Frankreich sind es drei Monate. Dort beobachten Wissenschaftler mit Sorge den steigenden Konsum von Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Bis vor kurzem lag Frankreich mit einem durchschnittlich zwei bis dreimal höheren Verbrauch an der Spitze Europas. In Belgien gaben 12,3 Prozent der Befragten zu, mindestens einmal im Jahr Beruhigungsmittel genommen zu haben. Für Deutschland schätztdie DHS die Zahl der Medikamentenabhängigen auf 1,4 Millionen,davon sei eine Million süchtig nach Benzodiazepinen. Bislang waren die drei Länder in der EU diejenigen gewesen mit dem höchsten Konsum an Schlaf- und Beruhigungsmitteln.
Alarmierend ist jedoch, dass Luxemburg bei den BeruhigungsmittelnFrankreich inzwischen überholt hat. Ein trauriger Rekord. Bei den Schlafmitteln liegt das Großherzogtum nach Auskunft des Gesundheitsministeriums europaweit auf einem bedenklichen sechsten Rang. Anders als in Belgien, Deutschland und Frankreich wird hierzulande aber kaum etwas gegen den exzessivenMedikamentenkonsum getan. Nach Aussagen des Drogenkoordinators Alain Origer „existiert bisher kein Präventionsplan“. Eine Sensibilisierungskampagne des Gesundheitsministeriums vom Jahr 2004 hatte zwar psychotrope Arzneimittel im Fokus. Allerdings wurden Antidepressiva,Neuroleptika, Barbiturate, Benzodiazepine mehr oder weniger in einen Topf geworfen. Entsprechend einfach war es für Kritiker, die Kampagne als unseriös abzutun. Mitarbeiter des Centre de prévention klären auf Nachfrage über die Gesundheits- undSuchtrisiken bei unsachgemäßem Gebrauch von Arzneimitteln auf, zudem wurde auch eine Broschüre entwickelt. „Die Anfragenkommen vor allem von Seniorenclubs“, berichtet die Leiterin desDrogenpräventionszentrums Thérèse Michaelis. Das verwundert nicht, Personen über 50 Jahren – und Frauen – gelten allgemein als Hauptkonsumenten und als die am meisten durch eine „Medikalisierung des Alltags“ Gefährdeten. Eine Untersuchungder Uni Hamburg aus dem Jahr 2005 hat ermittelt, dass dieHälfte aller Bewohner von Hamburger Pflegeheimen regelmäßig Psychopharmaka bekommt. Offenbar geschieht dies, um unruhige Patienten ruhig zu stellen. Derartige Daten liegen in Luxemburg nicht vor. Außer der internationalen WHO-Konvention über psychotrope Suchtmittel, die von Luxemburg mit unterschriebenwurde, gibt es auch kein Gesetz, das den Gebrauch und die Verteilung von Benzodiazepinen regelt, geschweige denn einschränkt.
Luxemburgs Süchtige haben es leicht, an den Stoff zu kommen: EinBesuch bei einem verschreibungswilligen Arzt genügt – wer den nicht hat, der wechselt eben zu einem, der den begehrten Suchtstoff dann doch verschreibt. Ganz legal. Die Medikamente sind nicht übermäßig teuer, und dann sind da ja auch noch die Krankenkassen: Sie übernehmen 40 Prozent der Kosten. Die, die eigentlich über die Gesundheit wachen sollen, finanzieren die stille Sucht auf Krankenschein mit.
„Das muss sichdringend ändern“, findet Jean Huss von Déi Gréng. Der Abgeordnete hatte für vergangenen Mittwoch eine Aktualitätsstunde in derAbgeordnetenkammer angefragt, „um das Ausmaß der Problematik endlich aufs Tapet zubringen“. InseinerMotion, die von der Kammer allerdings nicht abgestimmt, sondernin die Gesundheitskommission verwiesen wurde, forderte Huss unteranderem eine bessere Information der Patienten, Weiterbildung für verschreibende Ärzte und eine Absenkung des Krankenkassenzuschusses.
Ganz auf den Kassenbeitrag zu verzichten, davon rät Jean-Marc Cloos aber ab: „Sonst könnten die Kassen den Konsumverlauf nicht mehr statistisch erfassen.“ Es waren Daten des medizinischen Kontrolldienstes, auf die sich Cloos in seiner Untersuchungbezogen hatte. Der Psychiater plädiert für einen Kostenbeitrag vonzehn Prozent und für eine schärfere Aufsicht durch die Krankenkassen und die Politik.
Bisher ist davon nicht viel zu sehen. Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo, sonst Hardliner in Sachen Drogen, wollte sich in seiner Stellungnahme in der Abgeordnetenkammer nicht auf konkrete Maßnahmen festlegen. Für ihn geht es derzeit vor allem darum, dass „Tabu zu brechen“ und „über das Problem zu informieren“. Eine weitere Studie soll genauere Auskunft über das Ausmaß der Problematik in Luxemburg bringen; für die nächste nationale Gesundheitskonferenz, verspricht di Bartolomeo, wird die Medikamentensucht thematischer Schwerpunkt sein. Ansonsten will sich der Minister erst einmal „mit den Leuten vom Terrain beraten“.
Inwiefern die Ärzte in eine wirksame Kontrolle einwilligen werden, dürfte spannend werden – sind sie es doch, die die rezeptpflichtigen Medikamente verschreiben und den Konsumdamit erst ermöglichen. In seinen Empfehlungen schlägt Cloos vor, jede Verschreibung eines Benzodiazepins in einem Patientenheft schriftlich zu dokumentieren. Mit solch einem carnet à souche ließe sich nicht nur der Arzneimitteltourismus – Mehrfachverschreibungen durch unterschiedliche Ärzten – unterbinden, die Dokumentation hätte darüber hinaus den Vorteil, unbeabsichtigte gefährliche Kombitherapien einzudämmen. Wenn sie nicht, wie in der Schweiz und in Frankreich, ohnehin nur auf Ausnahmefällen beschränktwürde. Die Alformec (Association luxembourgeoise pour le formation médicale continue) hat bereits signalisiert, ihren Ärzten einen Leitfaden mit an die Hand zu geben, auch über Weiterbildungen wird nachgedacht. Vom ÄrzteverbandAMMD war bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme zu bekommen.
Empfehlungen allein dürften aber nicht ausreichen, umvder exzessiven Verschreibungspraxis wirksam beizukommen. Erst als der gefährliche Wirkstoff Flunitrazepam 2000 verboten wurde und der Gesetzgeber die Verschreibung auf sieben Tage begrenzte, stellten die Ärzte drastisch weniger Rezepte aus. In der Schweiz, das Land in Europa mit den diesbezüglich restriktivsten Gesetzen – Benzodiazepine gelten dort als Suchtmittel und dürfen nur in medizinisch begründeten Ausnahmefällen verordnet werden – geschahen einer Pilotstudie zufolge 28 Prozent, bald ein Drittel, allerVerschreibungen von Benzodiazepinen nicht den Vorschriften gemäß.
Die LSAP-Deputierte Claudia Dall’Agnol fordert deshalb, die exzessive Verschreibungspraxis wider besseres Wissen bei unbelehrbaren Ärzten zu sanktionieren. Ihr Parteikollegedi Bartolomeo ließ aber offen, ob das ein Weg ist, den er gehenmöchte. Als nächstes sollen Mediziner über ihre jeweilige Verordnungspraxis informiert werden.
Sowieso helfen Sanktionen den Patienten nicht weiter, so lange es anAlternativen fehlt. Marianne wäre gerne ins Schlaflabor gegangen, um die Ursachen ihrer Schlaflosigkeit zu erforschen, oder hätte eine Psychotherapie begonnen. Im Gegensatz zu den risikobehafteten Benzodiazepinen zahlt die Krankenkasse diese ungefährliche Wahlmöglichkeit jedoch nicht ohne Weiteres.
* Name geändert