Zum deutschsprachigen Stück des Jahres 2011 wurde Jelineks Winterreise in der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift Theater heute gekürt. 1981 und 2002 wählte dasselbe Blatt den luxemburgischen Darsteller André Jung zum Schauspieler des Jahres. Noch 2011 belegt er Platz zwei. Seit acht Jahren ist er zudem Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele. Dies sind nur eine Handvoll nüchterner Fakten. Doch vielleicht verdankt das Luxemburger Publikum seinen Auftritt in der vergangenen Woche am Kasemattentheater auch seiner Mitgliedschaft im Verwaltungsrat desselben Hauses. Wie auch immer: Am 14. und 15. Dezember betrat mit Jelinek und Jung geballte Theater-Prominenz die schmale Bühne an der Rue du Puits.
Mit ihrer Winterreise widmet sich die Nobelpreisträgerin dem an Schubert angelehnten Wanderermotiv, einem zentralen Werk der musikalischen Romantik. Insbesondere gedenkt sie jedoch ihres Vaters, der über fast zwei Jahrzehnte hinweg geistig verwirrt in psychiatrischen Anstalten verweilte, bis er 1969 gänzlich umnachtet verstarb. Jelinek begibt sich in ihrem Werk auf eine autobiografische Suche nach den Spuren ihrer Eltern, emphatisch und ohne sich selbst zu schonen. Es ist die letzte Stunde dieses Dramas, in der André Jung an den Münchner Kammerspielen im Alleingang den Vater der Autorin mimt. In Luxemburg wird diese Stunde zu einem Bühnenereignis, das es so manchem Kritiker schwermacht, Euphorie zu vermeiden.
Eher zwecks Abschiebung denn mit therapeutischen Absichten interniert, spricht der Vater jene Worte der Missgunst, des Trotzes und der geistigen Verkümmerung, die sowohl das Leiden des irrenden Wanderers als auch die Gewissensqualen der Tochter veranschaulichen. Der Text gibt nicht nur preis, wie sehr sich der Vater zurück gelassen fühlt. Er offenbart sehr wohl auch die Schuld, die Jelinek sich eingesteht, den Vater „im Fluss des Lebens“ aufgegeben und nahezu abgeschoben zu haben.
Zuerst liest Jung diese Worte nur, verkörpert sie anschließend gestisch. Sehr wohl gibt es einige höchst leidenschaftliche, ja hektische Szenen, in denen der Vater etwa beschreibt, wie eine Patientin (und doch vielmehr er selbst) verprügelt wird, und Jung währenddessen wie wild herumfuchtelt, schreit, dann grunzt, weil es ihm den Atem verschlägt. Vor allem aber liefert der Darsteller über viele Minuten hinweg mit diesem herzzerreißenden Auftritt eine Feierstunde des darstellerischen Minimalismus. Auf der Bühne reichen ein Tisch, ein Stuhl, ein Klavier. In seinem Gesicht reichen ein kurzes Zucken, ein heimliches Heben der Brauen, ein unscheinbares Blinzeln, „der Versuch, einen Schritt zu machen“ (DLF) – und alles ist gesagt. Mit sparsamsten Mitteln lässt er das Blut in den Adern gefrieren, lässt das Publikum schmunzeln, offene Münder zurück. Wohlgemerkt wird diese Interpretation von Jelineks brachialer Sprache, ihrem Wortspiel und ihrer tabulosen Unmittelbarkeit gebrochen. Es scheint, als wolle der Vater gegen dieses martialische Wortgewitter mit körperlicher Subtilität ankämpfen, um dann doch ab und an von ihm unter lautem Geschrei überrollt zu werden. Letztlich ist es aber die Wucht der gestischen Zurückhaltung, die das Publikum für manche Momente so still sein lässt, dass diese Stille spürbar wird.
Es ist somit zu hoffen, dass das Kasemattentheater sich mit André Jung auf weitere Vorstellungen dieses erhebenden und erhabenen Monologes einigen kann. Die Reaktion der Zuschauer, der tosende Applaus, bekräftigt diesen Wunsch. Die Lesung von André Jung aus Jelineks Winterreise ist ein ganz kurzer, ein ganz großer Moment gewesen.