Sie erinnern bisweilen an die Auslagen eines Warenhandels, manchmal an ein Gefängnis, gar an eine Twilightzone. Vier stählerne, weiß gestrichene Zellen beherrschen den hinteren Bereich der Kulisse. Je nach Atmosphäre können die über ihnen herabhängenden Metallleuchten den Raum in psychedelisches Grün oder in wollüstiges Pink tauchen. Vorne steht ein Sitzmöbel, mal Couch, mal Taxi. In Anne Simons deutschsprachiger Inszenierung von Christian Lollikes Die Geschichte der Zukunft im Théâtre national de Luxembourg erschließt sich die Notwendigkeit einer multifunktionalen Kulisse sofort. Mit seiner Vorlage flicht der Däne seinerseits einen Text der unterschiedlichsten Wahrnehmungs- und Handlungsebenen, je nachdem wie die Figuren reflexiv oder gestisch, individuell oder sozial auf Ereignisse und Zustände reagieren.
Sei es die Taxifahrerin (Vanessa Daum), der Kunsthändler (Jan Brunhoeber) oder der Arbeitgeber (Klaus-Michael Nix), sie und alle anderen Figuren erwirken Drucksituationen inmitten von teilweise zufällig sich im Taxi ergebenden Figurenkonstella-tionen. Sie, die wohlgenährten Westler, fernab weltweiter Schieflagen, werden zu Richtern und Gerichteten angesichts ihres Handelns bzw. ihrer Gleichgültigkeit. Die ständig nach dem gewissenhaften Agieren suchende, zugleich jedoch naiv-kindlich anmutende Fahrerin wird von den Geistern jener heimgesucht, die Kinderarbeit leisten mussten oder an ihrer entwürdigenden Arbeit zugrunde gingen. Dieser ständige Wechsel an Haltungen der Gleichgültigkeit, des Idealismus, des Gutmenschentums, des Zynismus wird dabei auf mehreren Ebenen erreicht.
Auf der Ebene der Regie wird der angegurtete Wohlstandsbauch kurzum zur bizarren Kopfbedeckung von Künstlern umfunktioniert; Künstler, die Massenarmut zu entschärfen glauben, indem sie diese ästhetisieren. Dieselbe Requisite dient als Kind oder als Luxustasche. Auch die Zellen werden in ihrer minimalistischen Art zu oben genannten Wahrnehmungsräumen umgedeutet. Herrlich effizient wirken dazu die Rollläden, die von den Geistern mal auf transparent, mal auf deckend umgeschaltet werden und in der Tat für die gewünschte Stimmung sorgen.
Auf der textuellen Ebene wird der Wechsel durch ein Spiel mit Plattitüden erwirkt. Szenenweise driftet Lollike ab in einen Slogan-Verschnitt („10 000 für eine klare Antwort“, „man möchte so gerne etwas tun“, „Charity-Engel des Westens“), der den Zuschauer befürchten lässt, der Text schaffe es nicht, das Niveau bis ins Ziel zu halten. Doch gerade hier liegt der Reiz des Dramas: Indem er diese Oberflächlichkeit nicht isoliert als Realität darbietet, sondern die unterschiedlichsten menschlichen Lösungsansätze gegeneinander ausspielt, geht eine klare Orientierung für Figur und Zuschauer verloren. Sollen wir Globalisierung und sozialen Verlierern mit dem Familienglück im Wochenendhaus, mit politischem Protest oder mit blankem Zynismus entgegentreten? Liegt nicht gerade im Charity-Wahnsinn die eigentliche Perversion?
„Auch ich liebe humanitäre Katastrophen. Sie bringen das Beste in mir heraus. Und dann verdiene ich gleichzeitig Geld. Das war immer mein Traum. Schuld ist so ein unproduktives Gefühl.“ Später verkündet der Künstler seine neueste Performance: „Mein Werk ist zum Beispiel ein Ort in Afrika. Ich habe alle Bewohner dieses Dorfes dazu überredet, für einige Ziegen und eine Kuh eine Niere herzugeben. Danach verkaufe ich die Nieren in Europa. Es geht bei diesem Werk darum, den Zynismus des Westens und seine Kolonialisierung der Dritten Welt bloßzustellen.“ Was diese pseudo-kritische Ästhetisierung wohl am Leid der Afrikaner ändern mag?
Auch das ständige Umschalten der fünf Darsteller, Brigitte Urhausen und Marc Baum neben den Genannten, führt zu einer Heterogenität der Wirklichkeit. Weil einigen Akteuren mehrere Rollen anvertraut werden, muss der Zuschauer sich der wechselnden Gefüge ständig bewusst sein und neue Realitäten erfassen. Dauns herrliche Darstellung steht Pate für ein insgesamt kraftvoll agierendes Quintett. Ihre intensive Stimme mit klarster Diktion sticht heraus. Alles in allem kann Anne Simon jedoch auf engagierte Darsteller zurückgreifen. Lediglich Marc Baums zu ausschweifende Gestik stört ab und zu. So versucht er gelegentlich, selbst den hintersten Reihen mitteilen zu wollen, dass sein Kopf gerade nickt, sein Finger auf die nebenstehende Figur deutet. Hier wäre weniger mehr.
Anne Simons Regiearbeit entpuppt sich als Höhepunkt dieser Saison in typisch minimalistischer TNL-Manier. Die Geschichte der Zukunft liefert eine soziologische Collage im Kontext weltweiter Kommerzialisierung und internationaler Entwurzelung, die Guy Helmingers gedanklich ähnlichen, aber zu kurz gegriffenen und leicht abgedroschenen Versuch in Das Leben hält bis zuletzt Überraschungen bereit um Längen schlägt.