Ende April stimmten die Türken in einem Referendum ab, ob sie ein Präsidialsystem wollten. Das Ergebnis ist zweifelhaft. Offiziell sagten die Wähler mit knapper Mehrheit „Ja“, aber den Unregelmäßigkeiten, die das Ergebnis leicht ändern könnten, ist nie nachgegangen worden. Unter anderem auch deshalb, weil die Opposition im Land untereinander zerstritten und große Teile davon kampfunlustig war. Die internationale Öffentlichkeit, die sich bis zum Referendum wochenlang Gedanken über das Land machte, hat das angebliche Ergebnis eben so schnell verdaut und schaut nicht mehr hin.
Doch das Leben geht weiter – wie gewohnt. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, zufrieden darüber, dass seine Kritiker im In- und Ausland ihm eine Feuerpause gönnen, stabilisiert nun sein autoritäres Regime. Es droht am Bosporus eine Neuauflage eines Faschismus zu entstehen, ähnlich wie in Francos Spanien oder Salazars Portugal – verpönt, aber gerne geduldet.
Ankara beschäftigt sich seit dem Referendum mit dem Umbau des politischen Systems. Ein neues Wahlrecht, eine neue Arbeitsordnung für das Parlament und die Umverteilung der Verantwortung an verschiedene Berater Erdogans sind in Arbeit. Alle diese Maßnahmen haben zum Ziel, die Partei Erdogans für eine lange Zeit zur alleinigen Herrscherin des Landes zu machen. Gleichzeitig hat die Unterdrückung der Opposition keineswegs an Schärfe verloren, wie einige in Europa gehofft und behauptet haben.
Die junge Akademikerin Nuriye Gülmen und der Hauptschullehrer Semih Özakca zum Beispiel, die sich mit einem Hungerstreik gegen ihrer Entlassung zur Wehr setzten, wurden kurzerhand verhaftet, mit der Begründung, sie unterstützten Terrororganisationen. Jegliche politische Veranstaltung, die diesen Schritt des Regimes kritisiert, endet mit noch mehr Verhafteten und mit Polizeigewalt. Gülmen und Özakca, die mittlerweile seit über 100 Tage hungern und zum Symbol des Widerstands werden, schweben inzwischen in Lebensgefahr. Journalisten und vor allem kurdische Politiker werden weiter willkürlich verhaftet, wieder auf freiem Fuß gesetzt, noch einmal verhaftet... Systematische Zermürbung und willkürliche Gerichtsentscheidungen, die ohne Beweise und nur mit Hilfe von anonymen Kronzeugen erfolgen, sollen den Widerstandswillen der zähesten Oppositionellen zu brechen.
In den ersten Gerichtsprozessen gegen die Militärs, denen der Putschversuch im vergangenen Sommer angelastet wird, widerrufen die Angeklagten ihre Aussagen, die sie im Polizeigewahrsam machten und reden nun von systematischer und schwerer Folter in den Gefängnissen. Die offiziellen Erklärungsmuster, wie es überhaupt zum Putschversuch kam und wer tatsächlich dahinter steckt, werden unterdessen immer wirrer und undurchsichtiger.
Das alles drohte in den vergangenen Wochen allmählich zum Alltag und für die Bevölkerung zur Normalität zu werden. Eine große Rolle dabei spielte der Opportunismus der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP). Denn sie hoffte insgeheim, dass das Regime die linke Opposition der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus dem Weg räumt und so die CHP, wie einst in den 1970-er Jahren, die einzige Hoffnung der oppositionellen Kräften wird. Die Rechnung wäre vielleicht aufgegangen, hätte das Regime einen Abgeordneten der Republikanischen Volkspartei (CHP) nicht verhaften lassen.
Enis Berberoglu ist ein bekannter Journalist. 2014 musste er seinen Chefredakteurs-Posten bei der Tageszeitung Hürriyet unter enormem politischen Druck aufgeben. Daraufhin ging er in die Politik und wurde 2015 Abgeordneter der CHP. Doch seine Feinde in den Medien des Regimes ließen nicht nach. Sie warfen ihm vor, Geheiminformationen an einen Journalistenkollegen der Zeitung Cumhuriyet gegeben zu haben. Can Dündar, der mittlerweile selbst in Deutschland im Exil lebt, hatte damals in Cumhuriyet öffentlich gemacht, wie der türkische Geheimdienst mit Lkws Waffen an syrische Dschihadisten lieferte. Erdogan hatte erst verleugnet, aber die Beweislage war klar. Am Ende wurde Dündar wegen Spionage verurteilt. Nun ist Berberoglu dran, der die Vorwürfe, er habe die Informationen geliefert, konsequent von sich weist.
Dieser Schritt tat offensichtlich die CHP-Führung aufwachen. Parteichef Kemal Kilicdaroglu reagierte prompt und startete innerhalb kürzester Zeit einen „Fußmarsch für Gerechtigkeit“, der große Aufmerksamkeit in der Bevölkerung hervorruft. Zum ersten Mal seit Jahren scheint die Opposition die Rolle des „ewig Unterdrückten“, Erdogan und seinen Handlangern strittig zu machen. Gleichzeitig merken CHP-Politiker, dass Erdogan auch vor ihnen kein Halt machen wird. CHP-Abgeordnete, die noch vor eineinhalb Jahren mit Erdogans Partei kollaborierten, um die Immunität der HDP-Abgeordneten, ihren ungeliebten Konkurrenten, aufzuheben, beschweren sich nun darüber, dass ihre Eigenen ihre Immunität verlieren. Nicht umsonst macht in diesen Tagen in der Türkei das Zitat Martin Niemöllers die Runde: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist...“ Mit seinem „Fußmarsch für Gerechtigkeit“, der in der Hauptstadt Ankara anfing und vor dem Gefängnis enden soll, wo Berberoglu absitzt, bringt nun Kilicdaroglu tatsächlich etwas in Bewegung. Teile der Nationalisten und die HDP unterstützen die Aktion. Selbst unter manchen Konservativen stößt die Straßenaktion auf Sympathie.
Umso harscher reagiert Erdogan. In einer seiner täglich stattfindenden öffentlichen Reden tat er erst unbeeindruckt von der Aktion, um einige Minuten später Kilicdaroglu indirekt mit einem Gerichtsverfahren zu drohen. Seine Männer und seine Medien arbeiten mit Hochdruck, um den unerwarteten Aktionismus der CHP in den Dreck zu ziehen. Das Erwachen der CHP, wenn es denn nachhaltig wird, ist eine neue Hoffnung in der ewigen anatolischen Nacht. Es hat das Potenzial, die Opposition zumindest gegen Erdogan zu einen. Doch ohne anhaltenden internationalen Druck wird auch dieser Schritt vermutlich verpuffen.
Deshalb schauen nun viele wieder auf Deutschland und den G20-Gipfel in Hamburg am 7. Juli. Dort kann zweierlei passieren: Entweder erhöht die internationale Gemeinschaft den Druck auf Erdogan, der höchstpersönlich erscheinen möchte, oder sie geht weitere Kompromisse mit ihm ein, um wirtschaftliche und geopolitische Interessen zu wahren und dabei die Demokratie in der Türkei endgültig aufzugeben.