Es gab mal eine Zeit in der Geschichte, in der die Türken als Gefahr wahrgenommen wurden. Die osmanische Armee umzingelte Wien, während dessen überfiel ihre Vorhut tief im Bayrischen Wald, Städte und Dörfer, plünderte und brandschatzte sie. Jahrhunderte später spüren Menschen in Europa erneut eine „türkische Gefahr“. Das hat mit Migrationsbewegungen, mit dem radikalen Islam und mittlerweile auch mit dem neuen Regime zu tun, das vom türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan dem Land am Bosporus übergestülpt wurde.
Tatsächlich scheint dieses Regime außer Band und Rand geraten zu sein. Es tritt im Nahen Osten martialisch auf. Es wirft europäischen Politikern Islam-Feindlichkeit und Nazismus vor und eckt bei jedem an, der Erdogans Wünsche nicht akzeptiert. Neu ist, dass das türkische Regime auch die Autorität anderer Staaten nicht mehr wirklich anerkennt. So entführt der türkische Geheimdienst im Fernasien Dissidenten, wobei er offensichtlich die örtlichen Behörden mit falschen Informationen in die Irre führt. Türkische Politiker spielen auf europäischen Straßen mit Europas Sicherheitsbehörden Katz und Maus.
Zuletzt überfiel in Washington Erdogans Leibwache Menschen, die gegen die Politik des Autokraten protestierten. Während im Weißen Haus Donald Trump und Erdogan angebliche Harmonie inszenierten, sind ihre Vertreter inzwischen in einem diplomatischen Kleinkrieg verwickelt. Die politische Harmonie ist auch nur vorgetäuscht. Die USA wollen weiterhin mit kurdischen Kämpfern gegen den Islamischen Staat, oder das, was von ihm übrig ist, kämpfen. Ankara dagegen kooperiert in Syrien mit dem ärgsten Gegner des Westens, Russland, und lässt die USA außen vor.
Ist die Türkei also tatsächlich eine Gefahr für den Westen? Die Antwort wird wahrscheinlich niemanden zufriedenstellen. Denn sie lautet: teils, teils. Richtig ist auf jeden Fall, dass das Ankara erbittert kämpft und um sich schlägt, um Stabilität im Innern und Anerkennung imAußen zu finden. Es fühlt sich nicht sicher. In der Türkei ist die Unzufriedenheit in der Bevölkerung so groß nach dem Referendum am 16. April, dass Erdogan sie mit polizeilichen Maßnahmen zu unterdrücken versucht. Jeden Tag werden weitere Journalisten verhaftet und Protestierende auf den Straßen verprügelt. Die Justiz geht mit Methoden vor, die nichts mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu tun haben, sondern an die faschistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts erinnern.
Dass alles zur Zeit aus den Fugen geraten ist, weiß auch Erdogan. Deshalb ließ er sich gleich zum Chef seiner Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wählen und kündigte eine Säuberung in eigenen Reihen an. Danach soll, laut Erdogan, bis zu den Präsidentschaftswahlen in 2019 im Staat und Wirtschaft aufgeräumt werden. Ob das ihm gelingt, ist fraglich.
Genau hier liegt auch das Problem für die Außenwelt. Denn um diese Ziele zu erreichen, leitete das Regime vor einigen Jahren einen ideologischen Richtungswechsel ein. Es ist eine Grube, aus der weder Erdogan, noch das Regime jemals wieder heil herauskommen können, ohne zumindest erhebliche internationale Wellen zu schlagen.
17. März dieses Jahres warf Erdogan der europäischen Politik vor, einen Krieg zwischen Halbmond und Kreuz angefangen zu haben – also zwischen dem Islam und das Christentum. Kein Wunder, dass seine Anhängerschaft in Brüssel ihn zum Nato-Gipfel mit einer Grafik empfangen wollte, auf der zwei Menschen mit Halbmond und Kreuz einander duellieren. „Sammelt euch unter dem Halbmond!“, heißt es darunter. Für seine Anhänger ist Erdogan nicht einfach Staatspräsident der Türkei, sondern auch „Führer der Muslime“ und sogar „Führer der Welt“. Eine Anhängerschaft, die ideologisch so gehirngewaschen wurde, kann nicht einfach beruhigt werden. Sie braucht Aktion – wie in einem Boxkampf, wo die Zuschauer Blut sehen wollen.
Wahrscheinlich ist Erdogan auch gar nicht daran interessiert, seine Anhängerschaft zu zähmen. Im Gegenteil. Er glaubt, was er sagt. Er denkt, dass er der Führer der Muslime der Welt in einem Kampf gegen das Christentum ist. Er ist auch gefährlich, weil er intelligent und erfahren ist. Erdogan und seine Strategen wissen, dass sie nicht ohne internationale Verbündete ihr Land stabilisieren können, obwohl sie genau gegen diese oft hetzen. Daher sehen sie eine Chance in der Spaltung der westlichen Welt. So lange es Trumps, Mays und die sogenannten Europa-Kritiker gibt, hoffen sie mit diesen ein Bündnis gegen den Rest des Westens eingehen zu können.
Sie spekulieren auch darauf, dass sie diese neue Achse und ihren anderen Zweckverbündeten, also Russland, gegeneinander ausspielen zu können. Ein gefährliches Spiel, wenn man den Schauplatz bedenkt: Syrien, Irak, Kaukasus, der Balkan... Die Liste wird länger, je dreister das Regime in der Türkei wird und je mehr die Außenwelt es mit sich machen lässt.
Deshalb suchen seit einigen Monaten viele europäische Hauptstädte einen geeigneten Umgang mit dem neuen Regime in Ankara. Auf eine neue innenpolitische Dynamik können sie dabei nicht hoffen. Obwohl die Unzufriedenheit groß ist, sind die meisten Oppositionellen im Land dem Westen gegenüber genauso feindlich eingestellt, wie die AKP.
Worte von Arslan Bulut, eines Kolumnisten in einer oppositionellen Zeitung, machen dies deutlich. „Das Problem ist“, schreibt er, „dass die sogenannten Islamisten nicht unter dem Halbmond kämpfen, sondern, im Einklang mit dem tiefen Staat in England, gegen das Türkentum.“ Die sozialdemokratische Opposition ist nicht wesentlich besser. Viele glauben, dass der Westen Erdogan unterstütze, um die Türkei zu spalten und zu vernichten.
Solange Europäer vor Erdogan taktieren, weil sie nicht den richtigen Umgang finden, wird Erdogan in der Außenpolitik auf Konfrontationskurs bleiben. Er wird türkische Migranten aufstacheln. Er wird verbal provozieren, damit die EU die Gespräche beendet und nicht er. Er wird die Nato vor Herausforderungen stellen, vielleicht sogar teilweise paralysieren, solange er dort seine Erwartungen nicht erfüllt sieht. Die Kurden sollen bekämpft, Unterstützung für Demokraten in der Türkei eingestellt und türkische Hegemonie in ihrer Nachbarschaft akzeptziert werden. Erwartungen, die demokratische Traditionen im Westen nicht erfüllen können. Die Frage ist nur, ob der Westen seine demokratischen Traditionen genau so kämpferisch zu verteidigen bereit ist.