Nur 200 Jahre hat es gedauert, von der Entwicklung des ersten Fahrrads durch Karl von Drais bis sich Luxemburger Politik und Straßenbauverwaltung dazu durchgerungen haben, dem Zweirad eine eigene, darüber hinaus hängende, Brücke zu widmen. Denn Ende des Sommers soll der in die Bögen des Pont Adolphe integrierte Fahrradweg in Betrieb gehen, der Radlern eine Abkürzung zwischen Bahnhofsviertel und Oberstadt bieten soll. Im Vergleich zu den gefühlten 300 Jahren, die notwendig waren, um die Trambahn zu beschließen, die Ende des Jahres Fahrt aufnehmen soll, ging es mit der hängenden Fahrradbrücke also recht flott voran. Aufgrund des runden Geburtstags und weil Anfang Juli die Tour de France in Luxemburg Halt macht, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die Fahrradkultur in Luxemburg zu werfen, wo man grob zwischen vier Fahrertypen unterscheiden kann.
Die wahrscheinlich größte Gruppe bilden dabei die theoretischen Fahrer. Das Engagement des theoretischen Fahrers liegt weit über der Norm. Über Wochen hinweg verfolgt er täglich das Geschehen bei großen Straßenrennen wie der Tour de France oder dem Giro d’Italia. Zwischen Start und Ankunft vergehen mehrere Stunden, die er entweder im Internet-Live-Stream neben der Arbeit oder aber in der Kneipe auf dem Fernsehbildschirm verfolgt. Der theoretische Fahrer verfügt demnach über eine außergewöhnliche Ausdauer. Wie sonst würde er die Doppelbelastung bei der Arbeit, beziehungsweise den über Stunden ausgedehnten Konsum alkoholischer Getränke, über Tage hinweg durchhalten? Nicht nur seine Ausdauer, auch sein Expertenwissen ist unübertroffen. Er kann besser als jeder Teamchef einschätzen, ob die heutige Etappe anstrengend wird, wo die Tücken der Abfahrt lauern, und er wusste natürlich schon vorher, warum es nachher zum Sieg nicht gereicht hat. All das, obwohl er sogar die 500 Meter zwischen Haustür und Kneipe ausschließlich mit dem Auto zurücklegt.
Der Gesinnungszustand des theoretischen Radfahrers lässt sich am ehesten mit dem der Nachkriegszeit vergleichen, als Luxemburg Besatzungsmacht in Bitburg war. Erfolgreiche Fahrer wie Kirchen, Schleck, Schleck und Jungels sind Balsam für seine kleine luxemburgische Seele und bieten ihm Gelegenheit, sich auch einmal ganz groß zu fühlen. Zum Gebrauch leistungsfördernder Substanzen steht der theoretische Fahrer wie die Gedenkvereine der Deportierten und Zwangsrekrutierten zur Kollaboration: Das gab es nicht und ist nie passiert. Auch eindeutig positive Urintests können ihn nicht von der Überzeugung abbringen, dass „ons Jongen“ sauber sind.
Angesichts ihrer Ausrüstung grenzt es an Verunglimpfung, die Wochenend- und Feierabendfahrer – die zweite große Radfahrerkategorie –, die einzeln oder in größeren Gruppen die Straßen des Landes vermessen, als Hobbysportler zu bezeichnen. Das Rad des passionierten Feierabendfahrers ist teurer als das manchen professionellen Wasserträgers im Peloton. Klickt er, in Nylon und Mikrofaser gekleidet, den Helm auf dem Kopf und die verspiegelte Sportbrille auf der Nase, seine Fahrradschuhe in die Pedalen ein, dann treibt er äußerst ernsthaft Sport. Im Urlaub fährt er gerne Alpenpässe hoch und fühlt sich im Geiste dem Engel der Berge verbunden. So kommen auf dem kombinierten Geschwindigkeitsmesser und Kilometerzähler an seinem ergonomisch geformten Lenker am Ende des Jahres mehrere hundert, wenn nicht tausende Kilometer an zurückgelegter Strecke zusammen. Am Umfang des Wohlstandsbäuchleins ändert das wenig. Aber wenn sie Rad fahren, sind Jang, Heng und Pier aus dem Haus und streiten nicht mit Sylvie, Christiane und Nicole. Der Definition entsprechend, fährt der Feierabendfahrer aber nur nach der Arbeit, an Wochenenden oder im Urlaub Rad. Im Alltag bewältigt er im Umkehrschluss logischerweise auch kurze Strecken mit dem BMW oder dem Mercedes und bei der Fahrt über Landstraßen nur ungern von Radfahrergruppen ausgebremst.
In der Kategorie derjenigen, die das Rad im Alltag als Transportmittel benutzen, auf dem Weg zur Arbeit, ins Kino oder zum Umtrunk, gibt es ein vereinendes Merkmal: die soziale Klasse. Sie sind wohlhabend genug, um sich einen Wohnsitz auf dem Gebiet der Hauptstadt leisten zu können, denn wer einmal versucht hat, seinen Drahtesel von außerhalb mit dem öffentlichen Transport ins Stadtgebiet zu bringen, um dort weiter zu radeln, weiß um die Strapazen an Geist und Körper, um die Verletzungsgefahr im Umgang mit Busfahrern, Bahnschaffnern und Mitreisenden.
Innerhalb der privilegierten urbanen Radfahrergemeinschaft gilt es, zwischen zwei großen Untergruppen zu unterscheiden: denjenigen, die auf Sicherheit und denjenigen, die auf einen stilvollen Auftritt setzen. Erstere kann man an ihren unästhetischen, dafür aber mit vielen, einfach zu schaltenden Gängen ausgestatteten City-Bikes erkennen, der Unart unter den Rädern schlechthin, die sowohl von Hobby-Sportlern als auch von Mountainbike-Fahrern und hippen Trendsettern nur mit Abscheu und Verachtung betrachtet werden. Das ist dem City-Bike-Fahrer, wenn er an der Ampel oder im Anstieg, vielleicht sogar mit Hilfe einer Batterie, alle hinter sich lässt, egal. Er trägt Radsporthelm, eine neonfarbene Sicherheitsweste für die bessere Sichtbarkeit und hat sein rechtes Hosenbein mit einem Band zusammengeraftt, um es vor Kettenöl zu schützen. Beruflich steht er in der Mitte der Karierreleiter, muss deshalb nicht unbedingt Anzug tragen. Oft ist er Angestellter europäischer Institutionen und hat deshalb zweimal täglich Gelegenheit, ein unerklärtes Phänomen zu ergründen, nämlich warum die Überquerung der Roten Brücke, aller physikalischen Gesetze zum Trotz, unabhängig von der Fahrtrichtung einen ordentlich Tritt in die Pedale verlangt, so als ob es immer bergauf gehen würde.
Bleiben zu guter Letzt jene übrig, die aus Gründen der Optik auf die Sicherheit pfeifen. Dazu kann man getrost nicht nur diejenigen zählen, die für ein Rad im Retrostil größere Summen ausgeben, das, wenn es überhaupt über mehr als einen Gang, dann doch über sehr wenige verfügt. Für sie ist das Rad neben Smart-Phone, Designerbrille und Schallplattensammlung ein Statussymbol, das das Auto ersetzt. Abstriche bei der Ästhetik, zugunsten von Komfort, Sicherheit und Leichtigkeit, sind da undenkbar. Schließich ist das Gestell dieser Radfahrer Ausdruck ihrer kulturellen und intellektuellen Überlegenheit. Dieser Gattung kann man aber auch all jene zuordnen, die aus Rücksicht auf die Frisur keinen Helm tragen wollen und auch bei der Garderobe keine Zugeständnisse machen, Bewegungsfreiheit beim Pedalieren hin oder her. Da so manches Retrorad an Gewicht und Beweglichkeit in etwa einem totem Pferd entspricht, geht diese Rechnung nicht immer auf. Beispielsweise dann, wenn aufgrund der geologischen Verhältnisse im Stadtgebiet die Gesichtsfarbe von „frischem natürlichem Teint“ auf „Puls 220 und akutes Anstrengungsasthma“ wechselt.