Wer sich in Luxemburg für Literatur interessiert, kennt dieses Haus: Das Centre national de littérature in Mersch, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts von der Familie Servais bewohnt wurde, bis es vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten in Staatsbesitz überging und zum nationalen Literaturarchiv umfunktioniert wurde. In ihrem neuen Buch Servais, Roman einer Familie zeichnet Margret Steckel, die 1997 den Servais-Preis erhielt, das Porträt der illustren Familie während dieser langen Zeit, die sich das Haus in Familienbesitz befand.
Ein ambitioniertes Projekt! Fünf Generationen von Servais bewohnen das stattliche Anwesen im Lauf von rund zwei Jahrhunderten, angefangen mit Philippe Servais, der nach dem frühen Tod seiner ersten Frau deren Schwester heiratet, über Antoine, der es unter dem Aufschwung der Eisenindustrie zu großem Wohlstand bringt, über Joseph, dem Bruder des Staatsministers Emmanuel Servais, und den verschwenderischen Auguste, dessen Frau große Teile der Besitzungen verkaufen muss, um die Schulden abzutragen, bis hin zu Jeanne Servais, die, selbst kinderlos, der Gemeinde Mersch das Haus vermacht. Das sind selbst für einen Familienroman überaus viele Figuren. Zum Vergleich: Thomas Manns Buddenbrooks, der größte Klassiker unter den Familienromanen, beschreibt das Schicksal von gerade einmal zwei Generationen (Johann Buddenbrook den Älteren und Hanno nicht mitgerechnet); mit Toni Buddenbrook ist eine Figur von der ersten bis zur letzten Seite Teil des Figurenpersonals.
Die weitläufigen Verästelungen des Stammbaums, die wirtschaftlichen und politischen Erfolge der Servais mussten es der Autorin darüber hinaus nahe legen, mit der Familiengeschichte auch ein Stück Nationalgeschichte zu schreiben. Das Kriegstreiben von der Französischen Revolution bis zu den Weltkriegen bringt unterschiedliche Armeen ins Land und ins Servais-Haus; von den Neuerungen der Industrialisierung, wie dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, waren die Hüttenbesitzer direkt betroffen. Auch auf dieser Ebene bekommt Margret Steckel es also mit einer immensen Stofffülle zu tun.
Anders als die Buddenbrooks für Thomas Mann sind die Servais nicht die literarischen Widergänger von Margret Steckels eigenen Verwandten. Diese Distanz, die vielleicht nicht nur eine historische Fremdheit ist, sondern vor allem von großem Respekt vor den historischen Persönlichkeiten zeugt, macht die Autorin zum Hauptmerkmal ihrer Erzählperspektive: Sie hält sich an die Fakten, an verbürgte Überlieferung und private Aufzeichnungen, verschweigt hin und wieder vornehm die Umstände eines Todes oder einer Krankheit, lässt vieles unkommentiert, was einem heutigen Leser womöglich seltsam oder anrüchig erscheinen könnte. Lieber verzichtet sie auf Details, wenn diese nicht mit historischer Akkuratesse beigebracht werden können.
Eine gravierende Folge dieser Haltung besteht in einem weitgehenden Verzicht auf die Darstellung emotionaler Konflikte: Wo es nur geht, verweigert sich Steckel jeglicher Spekulation über den Gefühlshaushalt ihrer Figuren oder markiert ihre Mutmaßungen so nachdrücklich als bloße Mutmaßungen (durch Konjunktive und Fragezeichen, durch „vielleicht“, „möglicherweise“ usw.), dass sie nur einen weiteren Verfremdungseffekt bewirken. Ständig wiederkehrende standardisierte Beschreibungen („Pfirsichbäckchen“ usw.) und häufige Tempuswechsel zwischen Präsens und Präteritum tragen ein Übriges dazu bei, eine Barriere zwischen dem Leser und den Figuren zu errichten.
Ihre erzählerische Redlichkeit, ihr unbedingter Wille, die Wahrheit vor die Wahrscheinlichkeit zu stellen, bezahlt die Autorin so mit der Lebendigkeit ihrer Figuren. Nur sehr selten gewährt sie Einblicke in deren Innenleben, wie in ihrer Darstellung des Zugunglücks von Dommeldingen, bei dem Joseph und Caroline Servais verletzt wurden. An Stelle der distanzierten Beschreibungen tritt hier ausnahmsweise eine figurennahe Erzählung mit viel direktem Dialog, die dem Leser echte Anteilnahme erlaubt. Diese und wenige andere Passagen zeigen, was dieses Buch hätte sein können: ein Roman über eine bedeutende Familie, eine erzählerische Verarbeitung eines historischen Stoffes, eine Fiktion. Unter dem Diktat der historischen Akkuratesse ist indessen eher eine Chronik daraus geworden, eine Berichterstattung oder, wenn man so will: ein Geschichte Luxemburgs am Exempel der Familie Servais.
José Voss
Catégories: Luxemburgensia
Édition: 23.12.2010