Am Ende des Ersten Weltkriegs erlebte Luxemburg eine der tiefsten Systemkrisen seit seiner Unabhängigkeit. Arbeiter gründeten Räte und belagerten das Parlament, Bürger riefen die Republik aus, die Armee verweigerte den Gehorsam, die Nachbarn brachen die diplomatischen Beziehungen ab…
Eine der Schlüsselfiguren dieser Krise war Großherzogin Marie-Adelheid, die sich mit ihrer klerikalen und deutschfreundlichen Haltung über demokratische Prinzipien hinwegsetzte und das von Deutschland besetzte Land international diskreditierte. Als sie 1912 mit gerade 18 Jahren auf den Thron gelangte, hatte ihr niemand gesagt, dass der autoritäre Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhundert zu Ende ging, und sie musste bereits 1919 zum Rücktritt gezwungen werden, um die Monarchie zu retten. Als sie dann ins Kloster eintrat und 30-jährig starb, versuchte die klerikale Rechte eine Glaubensmärtyrerin im Kampf gegen den gottlosen Liberalismus und Kommunismus aus ihr zu machen und sogar ihre Seligsprechung zu erreichen. Erbauliche Biographien der tragischen Figur erschienen zu diesem Zweck bis in die Dreißigerjahre in Deutschland, den Niederlanden und sogar den USA.
In dieser Tradition schrieb nun André Link einen historischen Roman, Auf Winters Schneide. Link versucht, die entscheidenden Wochen, die zum Rücktritt der Großherzogin führten, aus der Sicht Nikolaus Welters zu erzählen. Des Dichters, der für die Linke in der Regierung war, ohne ihr anzugehören, und rechte Politik betrieb. Link dichtet dem des Opportunismus verdächtigten Welter die Rolle des über den Parteien stehenden Schöngeists an, mit dem er sich vielleicht selbst identifizieren möchte.
In kurzen Szenen erzählt Link streng linear und in dem antiquierten Stil der Epoche, wie Staatsminister Emil Reuter von der Rechts-partei und seine beiden dichtenden Minister Nikolaus Welter und August Liesch wiederholt nach Colmar-Berg fahren, um der Groß-herzogin ihre Unterstützung zu versichern. Link räumt knapp ein, dass der Klerus und der deutsche Hofstaat die jugendliche Groß-herzogin vielleicht etwas manipulierten, aber diese spielen ebenso wenig eine Rolle in dem Roman wie das aufgebrachte, als einige Radaubrüder verächtlich gemachte Volk. Nur der herrschsüchtigen und gnadenlos frommen Großherzogin-Mutter Marie-Anne fällt die Rolle zu, die Tochter in das tragische Unglück zu treiben.
Unter abenteuerlichen Bedingungen reisen dann die drei Minister nach Paris, um sich sagen zu lassen, dass Frankreich keine diplomatischen Beziehungen zu Luxemburg unter-hält, so lange die Kriegsverräterin auf dem Thron sitzt. Danach fahren Reuter und seine Minister zurück nach Colmar-Berg und bewegen die Großherzogin zum Rücktritt. Nicht als dramatische Verräter, sondern „wie gescholtene Schuljungen“, während Marie-Adelheid sich, wie im Hollywood-Schinken, „mit aus-gesprochener Grazie zum Fenster“ wandte und flüsterte: „Tun Sie, was Sie zu tun haben, meine Herren. Charlotte hält sich bereit.“ (S. 157-158) Zur Heiligen war sie schon mehr als 50 Seiten früher geworden, als sie „mit unbeschreiblicher, irgendwie nicht irdischer Grazie“ die Hand ausstreckte (S. 93).
Der Leser könnte sich wundern, wieso die politischen Fehler einer Großherzogin kurz vor der Einführung des allgemeinen Wahlrechts noch einmal als tragisches Schicksal ausgebreitet gehörten – müsste man den Roman nicht als Schlüsselroman lesen. Schließlich erschien er kurz, nachdem Großherzog Henri eine Verfassungskrise ausgelöst hatte. Er hatte sich vor zwei Jahren ge-weigert, das der Kirche unliebsame Euthanasiegesetz in Kraft zu setzen. Worauf der Vatikan und das Luxemburger Wort ihn, wie ein Jahrhundert zuvor seine Großtante, als Glaubensmärtyrer feierten, und ein christlich-sozialer Staatsminister ihn über eine eilige Verfassungsreform weitgehend entmachtete.
So gewinnt André Links Roman ungeahnte Aktualität, wenn man hinter Großherzogin Marie-Adelheid Großherzog Henri, hinter Großherzogin Marie-Anne Großherzogin Maria-Teresa und hinter Staatsminister Emile Reuter Staatsminister Jean-Claude Juncker entdeckt. Am Ende weiß man nicht mehr, ob Link Marie-Adelheid oder Henri die Worte in den Mund legt: „Ich war schlecht informiert. Und ich war parteiisch. Ich dachte, ich hätte ein Wort mit-zureden, statt nur hinter meinem Schreibtisch zu sitzen und die Dekrete anderer zu unterschreiben. Das war ein Irrtum.“ (S. 23)