„Ich wollte nicht den Gauleiter schönfärben“, meinte der deutsche Historiker Hans-Erich Volkmann in einem Gespräch mit Tageblatt-Redakteur François Besch1, und tat es dann doch.
Er habe versucht, in seiner „politischen Wirtschaftsgeschichte“ Luxem[-]burgs im Zweiten Weltkrieg nachzuweisen, dass es zwischen 1940 und 1944 darum ging, „ob man die Rohstoffe und Arbeiter ins Reich oder die Aufträge nach Luxemburg bringen sollte“. Gauleiter und Arbed-Management seien sich in dieser Frage einig gewesen, im höheren Interessen des Landes. „Dass das Rüstungsaufträge waren, ist eine andere Geschichte, aber man behielt die Arbeitskräfte hier.“
Wurde der Gauleiter von den Luxemburgern falsch verstanden? „Man wird im Buch Passagen finden, wo man, wenn man sie alleine liest, sagt, so unsympathisch war der Mensch gar nicht. Weil er versucht hat, alles was für Luxemburg erreichbar war, zu erreichen. Er war beispielsweise absolut dagegen, dass in Luxemburg die Wehrpflicht eingeführt wird, Hitler war auch dagegen. Er wollte dieses Land zum Teil seines Gaus machen, und das hat er nicht immer zum Schaden Luxemburgs getan.“ Gustav Simon war zwar ein Nazi und ein Gauleiter, aber „es gibt keinen anderen Gauleiter, der sich ähnlich verhalten hat.“ Dem Mannheimer Historiker Niedhart war das des Guten trotzdem zuviel, in der Frankfurter Allgemeine Zeitung warnte er, Volkmann „bewege sich mit solchen Formulierungen auf einem schmalen Grat.“2 In Luxemburg kam es zu keinem Proteststurm. Kein Historiker, kein Politiker, kein kritischer Bürger meldete sich zu Wort. Bis auf zwei Ausnahmen3.
Die Rehabilitierung des Gauleiters fand statt in den Mauern der Villa Pauly, dem ehemaligen Sitz der Gestapo. In Berlin übernahm die Luxemburger Botschaft bei der Vorstellung die Schirmherrschaft. Organisator der Feiern und Verleger des Buchs waren luxemburgischerseits das Centre de cocumentation et de recherche sur la résistance, das dem Staatsminister untersteht, und deutscherseits das Militärhistorische Forschungsamt, Potsdam, das der Bundeswehr untersteht. Es handelt sich also um eine Geschichtsschreibung im Staatsauftrag, um die Verkündung einer offiziellen Wahrheit, die fortan den Nimbus einer Staatsdoktrin besitzt.
Der Name, der auf einem Buchdeckel steht, verrät nicht immer den wirklichen Autor eines Buches. Das könnte auch der Fall sein beim vorliegenden Buch, das eine komplizierte Entstehungsgeschichte hinter sich hat. Das Rohmaterial stammt von Emile Krier, einem kritischen Historiker, der vor acht Jahren unerwartet aus dem Leben gerissen wurde und eine Dokumentensammlung von 25 laufenden Metern hinterließ. Die Geschichte der Luxemburger Wirtschaft unter der Naziherrschaft sollte Kriers Lebenswerk werden, an dem er seit 1980 ununterbrochen arbeitete.
Nach Kriers Tod kam die Dokumentensammlung in die Obhut des Centre de cocumentation sur la résistance, bis sie mit der Hilfe des Kulturministeriums zu Herrn Volkmann nach Freiburg verladen wurde, wo „durch Paul Dostert die Übergabe erfolgte“. In Freiburg wurden die 100 000 Seiten des „weitgehend ungeordneten“ Nachlass gesichtet und sortiert. Nicht berücksichtigt wurden die gesammelten Dokumente über Steuerpolitik, Verkehrswesen, Kirchenvermögen, Vereinswesen, Energiewirtschaft, Handwerk und Gaststättengewerbe ebenso wie die vorgefundenen Manu[-]skripte aus der Feder von Emile Krier, die „sich in einem Stadium der Bearbeitung befanden, die eine Veröffentlichung nicht erlaubten“. Mit der großzügigen Unterstützung der Fondation nationale de la résistance wurden die redaktionellen Arbeiten in einer Frist von zweieinhalb Jahren abgeschlossen.
Es war eine undankbare Aufgabe, der sich Volkmann und seine Mitarbeiter verschrieben hatten. Sie sollten einen Berg von Akten durchstöbern, oft ohne zu wissen, aus welchem Grund und zu welchem Zweck Emile Krier die Dokumente ausgewählt und aufbewahrt hatte. Den Freiburger Heinzelmännchen fehlten außerdem die elementarsten Kenntnissen über die Zusammenhänge in Luxemburg, was sie immer wieder zwang, bei Dr. Paul Dostert um „Rat und Tat“ nachzufragen oder dessen „Standardwerk“ zu Hilfe zu nehmen. So kam es zu Widersprüchen, Ungereimtheiten und Fehleinschätzungen.
„Führende deutsche Magnaten der Montanindustrie hatten schon in wilhelminischer Zeit die politische Integration des gesamten Minettegebietes gefordert.“ (380) Sie fühlten sich nach der Erfindung des Thomas-Verfahren im Jahre 1879 durch den „ungerechten Verlauf der Grenze“ betrogen und setzten im Ersten Weltkrieg das Minetterevier „auf die annexionistische Wunschliste.” Nach der deutschen Niederlage im Jahre 1918 erlitten sie einen zusätzlichen Schock, als sie ihre Industrieunternehmen in Luxemburg unter dem Marktwert verkaufen mussten. „In der Euphorie des gewonnenen Souveränitätszuwachses sind die möglichen Spätfolgen dieses Vorgehens (…) in Luxemburg nicht ins Kalkül gezogen wurden.“ (519-520) Dieser Fehler, den Volkmann durch den „ausgeprägten merkantilen Sinn“ (21) der Luxemburger erklärt, wurde 20 Jahre später bitter bezahlt: „Es war die aus Luxemburger Sicht verständliche Eliminierung des bestimmenden deutschen Elements aus der großherzoglichen Volkswirtschaft, die unter den Bedingungen der NS-Herrschaft großunternehmerische Revisionsansprüche als nicht zu unterschätzenden Aggressionsfaktor revitalisierte.“ (520)
Mit dem Jahre 1933 wurde die latente Gefahr des deutschen Annexionismus akut. Die Regierung Bech reagierte auf die Machtergreifung Hitlers durch eine Annäherungspolitik, die die Abhängigkeit von Deutschland noch vergrößerte. Im Oktober 1933 kam es zu einer Unterredung zwischen Arbed-Generaldirektor Aloyse Meyer und Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht in Berlin, in deren Mittelpunkt die Devisenkontrolle und die damit verbundene bilaterale Verrechnung der Importe und Exporte (clearing) standen. Die Luxemburger Regierung versuchte, „ohne ihren Wirtschaftspartner Belgien ein Abkommen mit Deutschland über die Freigabe Luxemburger Sperrguthaben anzustreben“ (56) und ermutigte die Unternehmen, „zusätzliche Warenbestellungen in Deutschland aufzugeben, und zwar in Form von Zusatzexporten an Hüttenloks, Hopfen und Maschinen, um die Freigabe Luxemburger Vermögenswerte zu erwirken,“ (57) was auf Kosten der traditionellen Handelspartner ging. So „befand sich das Großherzogtum auf dem von Schacht festgelegten Kurs“ und finanzierte indirekt die Aufrüstung Deutschlands. Der Anteil Deutschlands an den Erzexporten Luxemburgs zwischen 1932 und 1938 von 20,8 Prozent auf 47,2 Prozent, der Anteil an den Kohleimporten von 63 Prozent auf 82 Prozent und der Anteil an den gesamten Industrieexporten von 11,8 Prozent auf 27 Prozent.
Eine andere Politik wäre möglich gewesen: „Dass in der skizzierten rüstungsökonomischen Misere des Deutschen Reiches hier an verantwortlicher Stelle niemand ernsthaft daran dachte, sich durch wirtschaftliche Sanktionen einen wichtigen Außenhandelspartner zu vergrämen, versteht sich von selbst.“ (65) „Ein großes Druckmittel besaß Luxemburg in den Verhandlungen, das waren die großen Kohlemengen, die es bisher aus Deutschland importierte und die sich teilweise aus Belgien und den Niederlanden beziehen ließen.” (66)
Solange wie Volkmann sich mit deutscher Wirtschaftsgeschichte beschäftigt, ist er überzeugend. Sobald er sich aber den innenpolitischen Zuständen in Luxemburg zuwendet, häufen sich die Fehler. Das beginnt mit der Feststellung, dass „von den knapp 300 000 Einwohnern des Landes etwa 80 Prozent in der Eisenindustrie Beschäftigung fanden.“ (158) Nach der Volkszählung von 1935 waren es 17 000 von 135 000 Beschäftigten, also knapp 13 Prozent. Oder dass „die Arbeiterschaft in kaum nennenswertem Umfang sozialistisch oder kommunistisch organisiert gewesen war“. (479-480) Die linken Gewerkschaften erhielten bei den Sozialwahlen von 1933 und 1936 immerhin 60 bis 70 Prozent der Stimmen.
Volkmann wundert sich über den Rücktritt der Regierung Bech. „Obschon sie nach den Teilwahlen von 1937 mit 30 von 35 Mandaten über eine beachtliche Mehrheit verfügte, wurde damals die Parteibasis der Regierung durch die Aufnahme der Sozialisten erweitert.“(48) Die Kammer zählte nicht 35 Abgeordnete, sondern 55 und für den Sturz der Regierung Bech war das Referendum von Juni 1937 über das Maulkorbgesetz verantwortlich, das Volkmann nicht zu kennen scheint. Den Sozialisten sagt er eine Faszination für die Leistungen des Dritten Reiches nach: „Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass durch die staatswirtschaftlichen Regulierun[-]gen, wie sie in ausgeprägter Form das NS-Regime vornahm, die sozialistischen Kräfte in anderen europäischen Staaten Auftrieb erhielten, so in Luxemburg.“ (49) Den Kommunisten wirft er provokatorische Tätigkeiten vor: „Luxemburg war ein politischer Dorn im Auge der rheinischen NSDAP. Denn von dort schleuste man ausländische nazifeindliche und damit staatsgefährdende Hetzschriften ins Reich ein.“ (184) Als Kronzeugen nennt er den Nazibotschafter Von Radowitz. „Die Deutsche Botschaft lag mit dieser Beurteilung sicher richtig.“ (43).
Die Antifaschisten werden ignoriert, diffamiert, ausgeblendet. Was bleibt ist Ausländerfeindlichkeit, Überfremdungsangst, „antideutsche Ressentiments“ (84), „antijüdische Ressentiments“ (43). Luxemburg sei ein „Zwergstaat“ (93) gewesen, ein „Duodezfürstentum“ (420), ein „Rumpfterritorium“ (178), das sich 1839 „aufgrund der dominanten deutschen Sprache und der germanischen Abstammung seiner Bewohner als ein völkisch geschlossenes Gebilde präsentierte.“ Der Luxemburger Patriotismus habe „bis zum Ende des Ersten Weltkriegs nicht als besonders ausgeprägt“ (178) gegolten. Erst die unmittelbare Kriegsgefahr am Vorabend des Zweiten Weltkriegs habe die „im Nukleus“ (519) vorhandene Identitätsfindung abgeschlossen: „Man kann die Auffassung teilen, dass die Luxemburger nationale und politische Identität erst mit der 100-Jahresfeier 1939 richtig zu wachsen begann und dass der Zweite Weltkrieg sie vollends zur Entfaltung brachte.“ (520)
“Die militärische Inbesitznahme des Großherzogtums am 10. Mai 1940 (…) diente zunächst einmal der Bewältigung einer kriegswirtschaftlichen Krisensituation des Dritten Reiches, die sich mit den Wirtschaftskräften und dem Rohstoffpotential Luxemburgs durchaus entschärfen ließ.” (S.93) Im Winter 1939-40 befand sich die deutsche Kriegswirtschaft in einem Engpass, was die Versorgung mit Eisenerz anbelangt. „Von einer Bevorratung für den Fall eines längeren Krieges konnte überhaupt keine Rede sein.“ (93) Die Eroberung Luxemburgs war dehalb unbedingt notwendig, um den Krieg fortsetzen zu können. Sie war kein Amoklauf, sondern das Ergebnis kaltblütiger Kalkulationen der Wirtschaftsexperten.
„Luxemburg in deutscher Hand machte nur Sinn bei gleichzeitigem Zugriff auf Lothringen.“ (85) Von dem Augenblick an, da Lothringen von Frankreich getrennt und dem Dritten Reich einverleibt wurde, war auch an ein selbständiges Weiterbestehen des Großherzogtums nicht mehr zu denken.
Die Oberste Heeresleitung sprach sich deshalb für die „Strategie einer strukturellen Verwobenheit auf ökonomischem Sektor und eines auf mentaler Verbundenheit beruhenden Zusammenwachsens“ aus (19). Die wirtschaftliche Annexion zog die politische Annexion nach sich. Hitler „musste zu diesem Entschluss regelrecht gedrängt werden.“ (486)
Der Historiker orakelt weiter: „Womöglich hätte der ‚Führer und Reichskanzler‘ sich mit einer Juniorpartnerschaft des Großherzogtums zufrieden gegeben.“ (81)
So kam es zur „organisch gewachsenen Verbindung zwischen Lothringer und Luxemburger Erzen und Eisen mit der Kohle des Ruhrgebietes“ (193). „Keine untragbare wirtschaftliche Hypothek“, nur eine unausweichliche Tatsache. „Behörden und Wirtschaftsrepräsentanz Luxemburgs ließen es während der deutschen Militärverwaltung nicht an ostentativer Willensbekundung zur Kooperation fehlen, schon gar nicht im ökonomischen Bereich.“ Sie handelten als „Transmis[-]sionsriemen deutscher Politik“ (124), trugen „der realen machtpolitischen Konstellation Rechnung, wie sie sich als deutsche Dominanz auf dem europäischen Festland damals darstellte, ein wirtschaftlicher Anschluss Luxemburgs an das Reich in Anlehnung der Verhältnisse bis 1919 als unausweichlich, aber auch als wirtschaftlich sinnvoll erachtet wurde“ (193).
Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit, die für die Besiegten „nichts andere als ihre völkerrechtlich verbriefte vaterländische Pflicht“ (486 ) sei, wurde vom Gauleiter honoriert. “Schließlich wollte man das Luxemburger Unternehmertum nicht verprellen, das ja insgesamt positive Signale für eine Zusammenarbeit mit der deutschen Wirtschaft und der Besatzungsmacht aussandte“ (273). Gustav Simon ging es darum, seinem agrarisch orientierten Gau eine industrielle Basis zu geben, um „seinen Gau zu einem stabilen Wirtschaftsfaktor zu ergänzen, wenn nötig auch zu Lasten von Reichs[-]interessen“ (196). Dieser „Gaupartikularismus“ lag im gemeinsamen Interesse der Luxemburger und der anderen Mosellandbewohner.
Simon hatte „die Parole ausgegeben, jeden Luxemburger ungeachtet seiner politischen Vergangenheit, sofern er denn Loyalität bekundete, beim sogenannten Wiederaufbau des Landes mitwirken zu lassen“ (260), er „zeigte sich stets bemüht, den hohen Luxemburger Lebensstandard nicht unter ein gewisses Niveau sinken zu lassen“ (209), „zeigte sich bestrebt, den Bürgern des Großherzogtums, der politischen Stimmung wegen, Vergünstigungen zukommen zu lassen, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bot“ (508), versuchte „deren Gleichschaltung mit den Deutschen entgegenzuwirken, wo dies einer materiellen Schlechterstellung gegenüber dem Status-quo gleichkam“, verlegte sich auf „hinhaltenden Widerstand“ gegen aus dem Reich diktierten Benachteiligungen (498) . Er „achtete zwar darauf, dass den kriegswirtschaftlichen Bedürfnissen Rechnung getrage wurde, die er dabei selbst definierte“ (308). Simon besaß Realitätssinn, Einfühlungsvermögen, er wollte nur das Beste für die Luxemburger. Er setzte fast basisdemokratische Akzente, betrieb heimlichen Separatismus.
In seinem Buch von 1985 rühmte der Luxemburger Historiker Paul Dostert Simon für dessen „relativ erfolgreiche Schulpolitik“ (Dostert 151), die „Bereicherung des kulturellen Angebots“ (D,125), den Erhalt der Industrie und die Modernisierung der Steuergesetzgebung. Volkmann fügt den Weinbau, die Tabakindustrie, die Holzindustrie hinzu. Simon widersetzte sich der Einführung der Wehrpflicht, verhinderte weitere Einberufungen (318) und war ein Gegner der Umsiedlungen (459). Dostert verlieh Simon den Titel eines neuen „Herzogs von Luxemburg“, Volkmann sieht in ihm einen „gauregionalen Landesvater“ (477).
Volkmann sieht die Erklärung für das eigensinnige Machtgebahren des Gauleiters in dessen Charakterstruktur: „Als eine der wichtigsten Ausdrucksformen seines Handelns darf seine Geltungssucht betrachtet werden, durch die der körperlich kleinste Gauleiter die Unscheinbarkeit seiner Erscheinung zu kompensieren suchte. » (181) Den Originaltext findet man bei Dostert: „Der persönliche Ehrgeiz stellte bei Simon eindeutig die Triebfeder seines Handelns dar. Dabei spornten Minderwertigkeitskomplexe des auch körperlich etwas zu kurz gekommenen Gauführers ihn zu einer kompensierenden Fassadenpolitik an.“
Der Gauleiter war ängstlich besorgt um die Stimmung und das Vertrauen der ihm unterstellten Luxemburger. Er war wie ein „gebranntes Kind, der das seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gestörte Vertrauensverhältnis zur Mehrheit der Luxemburger Bevölkerung nicht in Richtung einer stärkeren Obstruk[-]tion aktivieren wollte“ (329). Trotzdem gab er die Hoffnung nicht auf, die Herzen der Luxemburger doch noch zurückzugewinnen: „Spätestens im Frühsommer des letzten Besatzungsjahres bestanden für ihn keinerlei Zweifel mehr daran, dass sich die Mehrheit der Luxemburger weder durch materielle Bestechung noch durch politische Überzeugung für die Sache des Reiches gewinnen lassen würden.“ (477)
In den „Diadochenkämpfen“ mit den Gauleitern der Nachbargebiete und in seinem Aufbegehren gegen die Zentralgewalt stieß der kleingewachsene Gauleiter auf das Unverständnis von Propagandaminister Goebbels, der sich „der antideutschen Ressentiments“ der Luxemburger nicht bewusst war, während sich Himmler vorsichtig aus dem „Disput heraushielt“ . Adolf Hitler, der liberale Großfürst, „teilte wohl die Befürchtungen seines CdZ“ (309). Er war den Luxemburgern nicht unbedingt schlecht gesinnt, „zumindest zeitweilig überzeugt, man müsse um die Gunst der Luxemburger werben“, um „die Herzen der Luxemburger für das Deutschtum zu gewinnen“ (187).
Wie kommt Volkmann darauf, dass Hitler die Herzen der Luxemburger erobern wollte? Volkmann sagt, er habe es von Dostert. Dostert schreibt: „Die Herzen der Luxemburger für das Deutschtum zu gewinnen“, so lautete der Auftrag des Führers an Gauleiter Simon im Telegramm, das ihn als Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg einsetzte“ (D,74). Den Auftrag, „dessen pädagogischer Akzent hervorsticht“, fand Dostert in den Aussagen des Nazioberbürgermeisters Hengst. So wäscht eine Hand die andere.
Wenn Kollaboration eine patriotische Pflicht war, dann kann Widerstand nur eine sinnlose, selbstzerstörerische Tat gewesen sein. Gleich auf Seite vier kommt Volkmann auf den „vermeintlichen Generalstreik in Luxemburg“ zu sprechen, „den Generalstreik, der keiner war“, und auf Seite 311 kommt er noch einmal zurück auf „die punktuelle Arbeitsniederlegung, bei Weitem kein Generalstreik, zu dem sie vom Luxemburger Widerstand gerne stilisiert wird“ (312), und bemerkt hämisch: „In Berlin scheint man dem Streik in Luxemburg keine allzu große Bedeutung beigemessen zu haben.“ Der Streik habe nämlich keine Auswirkungen auf die Produktion gehabt. „Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass die Luxemburger Erzförderung bis Mitte 1944 erstaunlich konstant auf beachtlicher Höhe verharrte. Zwischen Juni 1940 und dem gleichen Monat 1944 bediente Luxemburg mit insgesamt 2 804 000 Tonnen mehrere Hüttenbezirke mit Minette, wobei die eigene Schwerindustrie als bester Kunde mit einer Zuteilung von 9 086 000 Tonnen, gefolgt von der belgischen mit 8 322 000 Tonnen…“ (390). Bei diesem Zahlenkuddelmuddel handelt es sich nicht um die entsprechenden Vergleichsmonate, sondern um die Gesamtproduktion von 1940 bis 1944, was zu den Auswirkungen des Streiks überhaupt nichts aussagt.
Es stimmt, dass der Streik von 1942 kein Generalstreik war im Sinne einer gleichzeitigen, allgemeinen und unbefristeten Arbeitsniederlegung, die zur vollständigen Lähmung des ganzen Landes geführt hätte. Es war aber ein Generalstreik im Sinn einer Welle von Arbeitsniederlegungen, die alle Teile des Landes und alle Schichten der Bevölkerung erfasst hat. Seine Wirkung ergab sich nicht aus einer erzwungenen Verhandlungsposition, sondern aus seiner Signalfunktion im nationalen und im internationalem Rahmen. Aus diesem Grunde reagierte man in Berlin noch in der Nacht mit der Einführung des Ausnahmezustandes und der Einsetzung eines Standgerichtes, das von Volkmann mit dem Sondergericht verwechselt wird. „Man rächte sich an den ‚Kleinen‘, z.B. an den Mitgliedern des Sondergerichts… Diese waren u.a. an den Willkürurteilen gegenüber den Teilnehmern des Septemberstreiks von 1942 beteiligt“ (489).
Was sind Volkmanns Erklärungen wert? Wollte der Gauleiter nur das Beste für die Luxemburger ? Hat sich die Nazizeit für die Luxemburger gelohnt? Verhielten sich die Luxemburger nur zu einem geringen Teil obstruktiv? Bedurften sie der Entfremdung von ihrem dominanten Nachbarn für ihre Identitätsfindung?
„Legt man einen objektiven Maßstab an, wie etwa die kalorienmäßige Versorgung, dann muss diese als ausreichend gelten.” (468) Die Fleischratio[-]nen verringerten sich im Jahre 1942 von 500 auf 300 Gramm pro Woche, „“blieben aber letztlich 50 Gramm über denen des Reiches“ (469). Verlieren die Luxemburger dadurch das Recht, sich zu beklagen? „Was die Bedingungen der allgemeinen Lebensführung anbetraf, so mussten die Luxemburger während des Krieges nicht knieend vor der nationalen Klagemauer verbringen, schon gar nicht im Vergleich mit den Reichsdeutschen“ (506). War die Angleichung der Lebensverhältnisse nicht der Preis, den Deutschland zahlen musste, um aus den Luxemburgern einen Teil des Herrenvolkes zu machen, um sie gefügig zu machen und zu ködern?
Die wirtschaftliche Eingliederung ins deutsche Reich hat für Luxemburg „einen partiellen Modernisierungs- und Rationalisierungsprozess“ befördert, wobei nicht erklärt wird, aus was die Modernisierung der Steuergesetzgebung, der Sparkassen oder der Industrie bestehen soll. In einer besseren Erfassung der Steuergelder und der Sparguthaben zur Finanzierung des Krieges? Oder ist Modernisierung ein anderes Wort für Rationalisierung? Besteht sie in der Stilllegung von Mittel- und Kleinbetrieben in der Konsumgüterproduktion im Interesse einer gewaltigen Konzentration von Kapital und Macht in den Händen der kriegswichtigen Großindustrie? „Die Rüstungskonjunktur mit satten Gewinnen erlaubte und der Arbeitskräftemangel erzwang Rationalisierungs- und Erweiterungsmaßsnahmen, die zum einen der Kriegsführung und damit dem NS-Regime zugutekamen, zum anderen aber eine Betriebsinvestition für die Zukunft bedeuteten. Das galt für Differdingen wie für Rodingen, aber auch die Arbed erweiterte ihre Produktionsanlagen.” (378) Dabei sind die Gewinne nicht in der Form von ausbezahlten Dividenden festzustellen, sondern in dem Wertzuwachs der erweiterten Industrieanlagen.
Angesichts des Kompetenzgerangels im „polykratischen Herrschaftssystem“ der Nazis und der „Vernetzung zwischen Wirtschaftsunternehmen und Zivilverwaltung“ (488) stellt sich die Frage, welche Interessen der Gauleiter vertrat. Wenn sich schließlich die Vertreter der Ruhrindustrie gegen den Saarindustriellen Röchling und die Hermann-Goering-Werke durchgesetzt haben, dann heißt das, dass man auf die Politik der Autarkie, die für die Aufrüstung in der Vorkriegszeit wichtig war, zu Gunsten einer Beherrschung des europäischen Wirtschaftsraumes mittels transnationaler Großkonzerne aufgab“. Im Zuge des „Wiederaufbaus eines globalen deutschen Außenhandels nach dem Krieg” beabsichtigte Simon, „Luxemburg zum schwerindustriellen Umschlagplatz mondialer Dimension zu gestalten“ (404). Ernst Poensgen, der Leiter der Vereinigten Stahlwerke, beteuerte 1945, es sei nur darum gegangen „die freundschaftlichen Beziehungen, die vor dem Kriege zwischen den Gruppen der internationalen Verbände bestanden haben, auch während des Krieges aufrechtzuerhalten“ (412). Damit verlassen wir die gaupartikularistische Froschper[-]spektive und nähern uns dem Kern der Dinge. Die Nazizeit reiht sich ein in eine Kontinuität, die vom Internationalen Rohrstahlkartell bis zur Montanunion reicht.
Vielleicht war es Emile Kriers Absicht, diese Fragen zu thematisieren. Er ist nur Schade, dass seine Arbeit für revisionistische Zwecke missbraucht wurde. Die Verantwortung trägt in erster Linie Volkmann, „ein im moralischen Desaster Nachkriegsdeutschlands erzogener Historiker“, der die ewigen „Selbstbezichtigungen“ (497) vor ausländischen Kollegen satt hatte und erkannt hat, dass der Zeitgeist im wilhelminischen Merkel-Deutschland nun von einer anderen Seite bläst. Ein Teil der Schuld ist auch in Luxemburg zu suchen, im vorauseilenden Gehorsam der staattragenden, autoritätsgläubigen Historiker. Vor 25 Jahren warnte der liberale Politiker und einstige Widerstandskämpfer Emile Krieps vor der Gefahr der Germanisierung der Luxemburger Geschichtsschreibung. Heute sind wir so weit. Wir stehen vor einer Gleichschaltung des historischen Bewusstseins und das geht uns alle etwas an.