Welcher vaterländisch gesinnte Dichter käme schon auf die Idee, schwärmerische Lieder über den Finanzplatz zu verfassen? Solche Heldengesänge der industriellen Revolution, des technischen Fortschrittsglaubens und der klassenlosen Volksgemeinschaft, von Michel Lentz über Nikolaus Welter bis Tony Hurst, gibt es nur über die Stahlindustrie und die Eisenbahn. Erstere, weil sie promethisch den Reichtum des Landes schmiedete, Letztere, weil sie endlich die kleine Provinz an die großen Metropolen anschloss.
Die Eisenbahn, die Anfang Oktober ihren 150. Geburtstag feierte, erlebt derzeit wieder einen unerwarteten Aufschwung. Noch vor 20 Jahren galten Auto, Flugzeug und Lastkraftwagen als moderne Gefährte für den Weg in die Zukunft und der Zug als ein dem Untergang geweihtes Überbleibsel zum kostspieligen Transport von Armen, Alten und Schülern sowie der letzten Spundwände und Stahlträger einer industrie crépusculaire. Die nationale Eisenbahngesellschaft CFL und ihre Beamten wurden zu Synonymen für ein nicht mehr zu rechtfertigendes Subventionsgrab im Staatshaushalt.
So war während Jahrzehnten, trotz der Elektrifizierung der Strecken und des Baus des Rangierbahnhofs Bettemburg, die Geschichte der Eisenbahn vor allem eine Geschichte der Streckenstilllegungen und des Personalabbaus. „Ainsi furent fermées au trafic voyageurs les lignes de Vianden, de Larochette et de Beaufort en 1948, suivies par celles d’Aspelt en 1952, de Martelange en 1953, d’Echternach en 1954 et de Remich le 22 mai 1955“, heißt es in der eben erschienenen Festschrift 150 Joer Eisenbunn zu Lëtzebuerg 1859-2009 unter der etwas erstaunlichen Überschrift „Une contraction inévitable du réseau ferroviaire“ (S. 58). Hatte das befahrene Streckennetz am Vorabend des Zweiten Weltkriegs einschließlich der Schmalspurbahnen eine Gesamtlänge von 543 Kilometer, war es 1978 auf 270 Kilometer halbiert worden.
Seither machen die Ökowelle und die morgendlichen Staus der Grenzpendler die Eisenbahn wieder ebenso salonfähig wie die kleine Schwester, die 1964 abgeschaffte Straßenbahn. Der politisch korrekte Zug gilt als umweltschonendes und energiesparendes Massentransportmittel, gegen das kein Politiker mehr die Stimme zu erheben wagt. Selbst im Wahlprogramm der Liberalen, die stets gegen die roten Zahlen und die roten Eisenbahner der CFL wetterten, heißt es: „Die DP wird das nationale Schienennetz ausbauen.“
Auch wenn das Bekenntnis zur Eisenbahn vor allem den Sonntagsreden vorbehalten zu bleiben scheint. Denn das befahrene Streckennetz hat, trotz aller Studien und Strategiepapiere, seit 1978 um gerade fünf Kilometer zugenommen; die Zahl der Eisenbahner, die 1978 noch 4 254 betrug, fiel 2006 erstmals unter 3 000.
Der Beitrag der Europäischen Union zur Förderung der mit Strukturproblemen ringenden und oft defizitären Einsenbahnen bestand ab 1991 in der Richtlinie 91/440 und folgenden, die auch Luxemburg zwangen, Streckennetz und Zugverkehr zu trennen und in die Hände verschiedener Gesellschaften zu legen. So wurde das Netz für konkurrierende Gesellschaften geöffnet. „Es bricht eine Zeit an, in der die wirtschaftlichen Überlegungen die politisch gewollten Dienstleistungen aus öffentlicher Hand verdrängen werden“, heißt es unheilvoll in dem fast parallel zur CFL-Festschrift erschienenen Buch der Eisenbahnergewerkschaft FNCTFFEL 100 Joer Landesverband.
Nahezu alle Parteien, die im Parlament für die Umsetzung dieser Richtlinien stimmten, sahen darin eine wirtschaftlich unsinnige Schikane für ein derart winziges nationales Netz. Wie von der Eisenbahn-Tripartite gutgeheißen, nutzte die Kammer die Übernahme des Netzes und dessen Schulden durch den Staat zur finanziellen Sanierung der Eisenbahngesellschaft, die umgehend mit dem Betrieb des Netzes beauftragt wurde.
So erschien die als Zukunftsmaßnahme gepriesene Liberalisierung und Deregulierung des Eisenbahnverkehrs wie eine Rückfahrt in das sehr liberale 19. Jahrhundert. Als die Industriebarone, die preußische Garnison und die Postkutschenreisenden mit einiger Verspätung einen Eisenbahnanschluss verlangten. Und die Angst umging, dass die Dampflokomotiven alle am Großherzogtum vorbeifahren würden wie heute die europäischen Hochgeschwindigkeitszüge.
Ohne die EU-Richtlinie 91/440 abzuwarten, vergab der Staat 1855 Konzessionen an Privatfirmen zur Ausbeutung von Eisenbahnstrecken zwischen Steinfort, Wasserbillig und Frisingen sowie nach Weiswampach. Die Folgen waren, wie bereits in den Nachbarländern, Spekulation, Konkurse, Bestechung und Betrug durch Investoren, deren Bereicherungswille größer war als ihr Kapital.
Nach zwei Jahren verkauften die ursprünglichen Konzessionäre ihre Konzessionen weiter an die Wilhelm-Luxemburg-Gesellschaft. Doch auch diese Aktiengesellschaft war nicht in der Lage, ihre vertraglichen Abmachungen einzuhalten und trat die Ausbeutung des Netzes an die Compagnie française des chemins de fer de l’Est ab. 1869 erhielt der belgische Eisenbahnmagnat Simon Philippart eine Konzession zum Bau und Betrieb von Bahnstrecken, welche Erz und Stahl im Süden und Passagiere auf Querverbindungen zu den anderen Strecken transportieren sollten. Doch obwohl der Staat die neue Prinz-Heinrich-Gesellschaft mit Konzessionen zur Ausbeutung von Erzgruben subventionierte, kam sie ihren Verpflichtungen nicht nach und ging nach wenigen Jahren unter.
Die Eisenbahnskandale, die sich zeitgleich ähnlich auf der anderen Seite des Atlantiks so abspielten und Anlass zu zahlreichen Western-Filmen gaben, beschäftigten während Jahren das Parlament und die Presse, selbst Michel Rodanges Renert konnte ein Lied davon singen. Um so mehr, als nach dem deutschen Sieg im Krieg gegen Frankreich 1871 die Compagnie française des chemins de fer de l’Est, welche die Konzession der Wilhelm-Luxemburg-Gesellschaft ausführte, an die deutschen Reichseisenbahnen in Elsass-Lothringen und nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1918 zurück an die Administration française des chemins de fer d’Alsace-Lorraine fiel. Nach dem Ersten Weltkrieg musste der Staat auch die Schmalschmurbahnen übernehmen, weil die 1882 und 1887 gegründeten Aktiengesellschaften der Sekundareisenbahnen und der Kantonaleisenbahnen konkursreif waren.
Das ermunterte die Eisenbahnbeamten, sich gewerkschaftlich stramm zu organisieren, wie sie es durch die internationalen Kontakte während ihrer Dienstfahrten und das Solidaritätsbedürfnis im Umgang mit den schweren Maschinen gelernt hatten. 1909 gründeten sie den Eisenbahnerverband und 1921 gehörten sie zu den ersten, deren Gehälter automatisch an den erst 1975 verallgemeinerten Index angepasst wurden. Heute fürchtet der Landesverband, im Regen stehen gelassen zu werden, und der OGB-L prophezeite am Wochenende, ihn nach der Aufkündigung des gemeinsamen Dachverbands CGT in den nächsten Jahren zu schlucken wie bereits seine Berufsfahrersektion Acal.
Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten wechselnde Regierungen sich erfolglos gemüht, die Lehren aus zu viel Marktwirtschaft zu ziehen und sämtliche Eisenbahnen im Land zu vereinigen. Dies gelang erst nach dem deutschen Einmarsch als Teil dessen, was man auch eine faschistische Modernisierung der Luxemburger Volkswirtschaft nennen könnte. Sie wurde nach der Befreiung, als selbst die CSV die Verstaatlichung der Eisenbahnen in ihrem Wahlprogramm versprechen zu müssen glaubte, beibehalten wie die Reichsabgabenordnung. So entstand 1947 mit Kapital des Luxemburger, des belgischen und des französischen Staats die nationale Eisenbahngesellschaft CFL.
Ein halbes Jahrhundert später mussten die CFL – zumindest in der Bilanz – ihr einheitliches Eisenbahnnetz wieder aufgeben und gründeten inzwischen selbst wieder private Aktiengesellschaften, auch wenn sie nicht mehr die Namen von Großherzögen und Regenten tragen, sondern beispielsweise modisch knapp CFL Cargo heißen. Der Engel der Eisenbahngeschichte scheint weniger Walter Benjamins stürmisch vorangetriebener Angelus novus zu sein als die im Kreis verkehrende Gierdelbunn.