Stellen Sie sich vor, Sie saßen gerade eben noch unter Freunden bei einem leckeren Glas Wein in schönem Ambiente – und plötzlich kommen Sie zu sich und finden sich irgendwo auf dem Boden in einem Waldstück mit zerrissenen Kleidern wieder und können sich weder daran erinnern, was geschehen ist, noch wie Sie dorthin gelangt sind.
So einen dramatischen Filmriss erlebte vor kurzem ein junger Luxemburger Student bei einem Weinfest mit Studienkollegen. Nachdem die gesellige Gruppe gemeinsam aus verschiedenen Gläsern getrunken hatte, wurde zweien plötzlich schlecht. Während der eine gerade eben noch von seinen Freunden ins Zelt zur freiwilligen Feuerwehr geschleppt werden konnte, bevor er komplett das Bewusstsein verlor, rannte der andere offenbar kilometerweit verwirrt und orientierungslos durch die Gegend, riss sich Hemd und Hose dabei kaputt und brach dann ebenfalls ohnmächtig zusammen. Um Stunden später aufzuwachen und den Schreck seines Lebens zu erleben.
Danach begann der mühselige Versuch, das Erlebte zusammenzufügen. „Ich hatte Glück. Ich habe mein Portemonnaie und auch mein Handy wiedergefunden. Ich möchte nicht wissen, was passiert wäre, wenn ich eine Frau gewesen wäre“, erzählt der junge Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Mit Hilfe seiner Freunde setzt er die Bruchstücke seiner und ihrer Erinnerung zusammen, gemeinsam beschließen sie zur Polizei zu gehen. Weil aber zwischen dem Black-out und dem Aufwachen mehr als sechs Stunden liegen, machen die Beamten ihm keine große Hoffnungen. „GHB-Tropfen sind im Blut nur bis zu sechs Stunden nachweisbar“, erklärt Alain Hensgen vom Drogendezernat der Luxemburger Polizei.
GHB steht für Gamma Hydroxybuttersäure und ist unter Partygängern besser bekannt als K.O.-Tropfen. Den Namen hat die illegale Droge, die gleichwohl relativ frei im Internet vertrieben wird, wegen ihrer Wirkung: In kontrollierten, minimalen Dosen ist die farb- und geruchslose Substanz anregend und leicht euphorisierend und wird daher gerne als Sex- und Kuscheldroge in Swingerkreisen konsumiert. Eine Dosis von 1,5 bis 2,5 Gramm bewirkt vor allem auf der körperlichen Ebene eine verstärkte sexuelle Sensibilität, weshalb die Substanz auch fälschlicherweise Liquid Ecstasy genannt wird, obwohl sie eine andere chemische Zusammensetzung hat.
Allerdings muss präzise, auf das Milligramm genau dosiert werden. In höherer Dosis kann die Substanz zu Atemproblemen, Muskelkrämpfen, Gedächtnisstörungen bis hin zum Koma führen. Exzessiver Konsum kann körperlich und psychisch abhängig machen. Die Droge taucht immer wieder im Zusammenhang mit kriminellen Machenschaften auf: Wiederholt geistern Schlagzeilen von Touristen durch die Nachrichten, die mit GHB oder GBL erst betäubt und dann ausgeraubt wurden, oder von Männern, die gezielt Frauen betäuben, um sie zu vergewaltigen; sogar in Zusammenhang mit Organraub wurden GHB und GBL gebracht. GBL (Gamma-Butyrolacton) ist ein viel verwendetes Lösungsmittel (in Farbentferner, Felgenreiniger) und eine Vorläufersubstanz von GHB. Es wird vom Körper zu GHB umgewandelt und nach oraler Einnahme schneller absorbiert, die narkotische Wirkung dauert etwas länger. Weil es selten auf dem Schwarzmarkt in klinisch reiner Form erhältlich ist, muss zudem immer mit Nebenwirkungen durch herstellungsbedingte Verunreinigungen gerechnet werden. Als in Aachen und Köln mehrere Vergewaltigungen bekannt wurden, bei denen Frauen mit K.O.-Tropfen betäubt und dann missbraucht wurden, starteten Polizei, Drogenberatungsstellen und Frauennotruf eine Kampagne, um junge Menschen, und insbesondere Frauen, eindringlich vor dem auch Date Rape Drug genannten Rauschmittel zu warnen.
„Wir raten insbesondere jungen Frauen, nur mit Freunden auszugehen und nur mit diesen auch wieder nachhause zu fahren“, mahnt Carlos Paulos. Der Psychologe ist Gründer von www.pipapo.lu, einer Initiative, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, junge Menschen altersgerecht vor den Risiken unbedachten Drogenkonsums zu informieren, und die für einen besonnenen aufgeklärten Umgang mit Rauschmitteln plädiert, ohne sie per se zu verteufeln. Denn während die Legalisierung von Cannabis von den Jugendorganisationen der Parteien pünktlich zu jedem Wahlkampf wiederentdeckt wird (ohne dass sich an der nationalen Drogenpolitik etwas ändern würde) und dazu reichlich Infos und Vor- und Nachsorgeangebote im Land vorhanden sind, klafft bei GHB und GBL eine bemerkenswerte und riskante Lücke.
So kann der Drogenbeauftragte Alain Origer keine Zahlen zu Konsum und Verbreitung von K.O.-Tropfen hierzulande nennen: „Wir haben meines Wissens noch keinen Fall gemeldet bekommen“, so der Psychologe. Ähnlich spärlich ist die Auskunft der Polizei. Sie will das Problem nicht herunterspielen, doch belastbare Zahlen hat sie ebenfalls keine. „Black-out-Fälle geschehen eher durch zu viel Alkohol. Ich kann mir vorstellen, dass K.O.-Tropfen zuhause als Entschuldigung vorgebracht werden“, räsonniert Hensgen. 2015 soll sich ein Mann mit GBL so überdosiert haben, dass er daran gestorben ist. In einer Mail heißt es auf Land-Nachfrage, dass bis Juni kein einziger Fall illegalen Einsatzes von K.O.-Tropfen gemeldet wurde. Die Polizei schickt Drogenproben ans staatliche Laboratorium in Düdelingen, wo sie analysiert werden und im Zweifelsfall auch per Haaranalyse GHB-Spuren nachgewiesen werden können.
Für den Durchschnittsbürger, den gewöhnlichen Diskobesucher (Diskobesucherin), ist das Labor aber nicht die erste Anlaufstelle. Sie würden eher in die Notfallaufnahme eines Krankenhauses gehen oder den Notarzt rufen. Wenn sie sich denn trauen, den Vorfall zu melden. „Viele schweigen aus Scham, weil es ihnen peinlich ist, Opfer geworden zu sein. Vielleicht auch, weil sie Angst haben, mit Drogenkonsum in Verbindung gebracht zu werden“, weiß Carlos Paulos. Auch dem jungen Luxemburger riet ein befreundeter Anwalt der Familie zunächst davon ab, die Polizei zu informieren, weil diese seinen Drogenkonsum erfassen würde, nicht aber die Verabreichung durch den unbekannten Täter. „Es kann nicht sein, dass sich Betroffene fürchten, zur Polizei zu gehen“, ärgert sich seine Mutter. „Das erinnert an den früheren Umgang mit Vergewaltigungsopfern. Das war auch lange Zeit ein Tabu und Frauen, die sich trauten, zur Polizei zu gehen, hatten oft zusätzlich mit gesellschaftlichen Vorurteilen zu kämpfen.“
Es verwundert schon, warum in Luxemburg, selbst bei niedrigen Fallzahlen, kaum Informationen darüber existieren, die erklären, wie man sich bei einer GHB-Überdosis am besten verhält. Das Drogenpräventionszentrum führt auf seiner Webseite www.cept.lu die Substanz, listet Wirkungen und nennt Verhaltenstipps, um das Risiko einer Vergiftung zu reduzieren, etwa ein Getränk niemals unbeaufsichtigt zu lassen. GHB taucht dort neben Cannabis und Tabak in einer Reihe auf, dabei ist die Gefahr einer gesundheitsgefährdenden Überdosis hier ungleich höher. Welche Notmaßnahmen für den Fall zu ergreifen sind, wenn der Verdacht besteht, ein Freund oder eine Freundin sei mit K.O-Tropfen abgefüllt worden, steht dort nicht. Oft kündigt sich der Konsum dadurch an, dass die Opfer wie unter starkem Alkoholkonsum durch die Gegend wanken oder ohne Hemmungen auf Fremde zugehen.
Das hauptstädtische Krankenhaus CHL ist auf GHB-Notfälle vorbereitet. Die Pressestelle des CHL bestätigt, dass „hin und wieder Verdachtsfälle“ den Weg in die Notaufnahme finden, die Blutproben würden ans Staatslaboratorium weitergeleitet. Für Vergewaltigungsfälle ist eine spezifische Prozedur vorgesehen, weil es wichtig ist, zusätzliche körperliche Spuren sicherzustellen und die Opfer psychologisch zu begleiten.
Gefährlich ist die Substanz aber nicht nur, weil sie von skrupellosen Tätern für die Begehung von Straftaten eingesetzt wird, sondern weil sie typischerweise gemischt mit anderen Drogen, meist Alkohol, zum Einsatz kommt. „Wir raten den Jugendlichen immer, sie sollen ihre Getränke keine Minute aus den Augen verlieren“, sagt Martina Kap von Jugend- an Drogenhëllef. Der Mischkonsum mit Alkohol ist gesundheitlich besonders riskant. Laut einer Analyse des Schweizerischen Toxikologischen Informationszentrums von 141 GHB-/GBL-Überdosierungen in den Jahren 1995 und 2003 mussten sich acht Prozent der Testpersonen nach einer Überdosierung mit GHB, respektive GBL übergeben, beim Mischkonsum mit Alkohol waren es 32 Prozent. Auch die Wahrscheinlichkeit, in ein Koma zu fallen und nicht mehr ansprechbar zu sein, ist beim Mischkonsum höher. Anti-Depressiva, Medikamente gegen Epilepsie oder Stimulantien können die toxische Wirkung ebenfalls verstärken. In Luxemburg stehen GHB und GBL auf der Liste der verbotenen Drogen.
Die Europäische Drogenbeoachtungsstelle in Lissabon veröffentlichte 2008 ein ausführliches Themenpapier zu GHB und GBL, nachdem die Substanz in der Techno-Partyszene europaweit eine gewisse Popularität erfuhr und der Anstieg GHB-induzierter Vergiftungen in verschiedenen Mitgliedstaaten besorgniserregende Maße annahm (Frankreich, Großbritannien, Niederlande). In Paris unterzeichnete ein Bündnis von Klubbetreibern eine Nachtklub-Charta im Rahmen des Projekts „Fêtez clairs“. Darin verpflichteten sie sich freiwillig, ihr Personal über Risiken und Nebenwirkungen von GHB und GBL aufzuklären, ihren Laden möglichst frei von K.O.-Tropfen zu halten, bei Verdachtsfällen einzuschreiten und neben einer Anzeige lebenslanges Hausverbot zu erteilen. Sie ließen Poster und Handzettel mit Warnungen vor GHB aushändigen. Eine ähnliche Kampagne gab es 2004 auf Londoner Partymeilen. Auch in Berlin schlossen sich Klubbetreiber zu einem Anti-GHB-Bündnis zusammen, nachdem mehrere Frauen unter GHB-Einfluss vergewaltigt wurden.
In Luxemburg fehlen bislang solche koordinierten Präventionskampagnen sowie eine systematisch durchorganisierte Hilfskette, die direkt bei den Nutzern und Nutzerinnen ansetzen. In Diskos und auf Festivals in und um Luxemburg sah man viele Jahre lang kaum systematische Aufklärungskampagnen zum freizeitlichen Rauschmittelkonsum, weil der lange Zeit als Tabu galt. Erst mit Initiativen wie Party-Mag-Net (deren Initiatoren zu Pipapo.lu wechselten) und mit dem freiwilligen Drogentestprogramm änderte sich das, geschah dann aber eher auf Initiative des Gesundheitsministeriums und den Mitarbeitern der Suchthilfestellen.
Die Stille um das Thema mit den niedrigen erfassten Fallzahlen zu begründen, greift aber zu kurz angesichts des Gesundheitsrisikos, das mit GHB und GBL verbunden ist. Polizei, Jugend- an Drogenhëllef und Suchtpräventionszentrum thematisieren Cannabis regelmäßig auf ihren Sensibilisierungstouren durch die Schulen, über die Gefahren von K.O.-Tropfen wird aber „nicht systematisch“ gewarnt, wie Luc Both vom Cept einräumt. Man wolle „keine Reklame machen“, sondern setze auf die Weiterbildung von Mediatoren, betont der Sozialarbeiter und Referent für Suchtprävention. Auch in der Leitstelle des schulpsychologischen Dienstes, C-Pos, gibt es keine systematische Informationen zu K.O.-Tropfen. „Das übernehmen die Schulen in Zusammenarbeit mit den Suchtberatungsstellen“, so Psychologe Jeannot Ferres vom C-Pos.
Doch wer sich an den Schulen in Lehrerzimmern umhört, findet allerlei Lehrkräfte, die von dem Phänomen gehört haben, sei es weil Schüler ihnen davon berichten oder durch ihre eigenen Kinder. Auch Mitarbeiter der Suchthilfe Impuls berichten, dass Jugendliche die Substanz kennen und Fragen stellen. Warum diese Erfahrungen dann nicht mit Profis im Unterricht diskutieren, zumal neugierige Jugendliche heutzutage sowieso alle Informationen über Drogen im Internet finden? „Es darf kein Tabu sein. Es muss viel deutlicher auf die Gefahren hingewiesen werden und darauf, wie sich Jugendliche und Erwachsene vor Missbrauch schützen können“, so eine betroffene Mutter.
Illegale Drogen in Luxemburg
Die verstärkte Polizeipräsenz und Razzien im Drogenmilieu schlagen sich statistisch nieder: Im Länderbericht Luxemburg 2017 der Europäischen Beobachtungstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) in Lissabon verzeichnet das Land zwischen 2006 und 2015 mit 3 345 Drogendelikten eine Verdopplung aller wegen Drogen registrierten Straftaten (2006: 1 575). Die am häufigsten beschlagnahmten Drogen hierzulande sind MarihuanaKokainHeroinHaschisch und Amphetaminedie meist aus den Niederlanden importiert werden. Amphetamine und MDMA werden über Belgien eingeschleustCannabis stammt vorwiegend aus MarokkoKokain aus Lateinamerikadas über Südeuropa geschmuggelt und hier stark gestreckt wirdHeroin gelangt inzwischen oft über die Balkanroute nach Europa und Luxemburg.
Während die EMCDDA lobtdass die Drogennutzung an Luxemburger Schulen zurückgehe und bis auf beim Kokain einen Rückgang sämtlicher Drogen für Luxemburg verzeichnetwarnt Drogenkoordinator Alain Origer vor zu viel Optimismus: Die EMCDDA-Daten stammten frühestens aus dem Jahr 2015die Ergebnisse einer Bevölkerungsumfrage zu Drogenkonsum und Suchtverhaltendie 2016 erstmalig in Luxemburg durchgeführt wurdeseien in dem EMDCCA-Jahresbericht 2017 nicht berücksichtigt.
Sorgen bereiten dem Gesundheitsministerium die mit 14 Personen im Jahr 2015 relativ gesehen doch recht hohe Zahl an HIV-Neuinfektionenfast ein Viertel davon (27 Prozent) offenbar verursacht durch die Nutzung verunreinigter Spritzen (sogenanntes Needle-Sharing) beim Straßenkonsum von Kokaindas sich Schwerstabhängige bis zu zwölf Mal am Tag spritzen. Hochgerechnet auf eine Million Bürgerkommt Luxemburg auf einen Wert von 249 bei den HIV-Neuinfektionen und teilt sich mit LettlandEstland und Litauen einen traurigen Spitzenrang in der Europäischen Union.
Ebenfalls hoch im Vergleich zum EU-Durchschnitt ist hierzulande die Sterblichkeitsrate durch Drogenmissbrauch: 2015 starben zwölf Menschen an einer Überdosisdie meisten von ihnen an Heroin. Allerdings erfasst der EMCDDA-Bericht nur die illegalen Drogen: Wer an den (längerfristigen) Folgen von und Gesundheitsschäden aufgrund übermäßigen Alkohol- oder Tabakkonsums stirbtwird hier nicht erfasst.
Süchtige können in Luxemburg in speziellen Strukturen unter Beaufsichtigung Drogen konsumierendas geht sonst noch in DänemarkDeutschlandden NiederlandenSpanien und neuerdings auch Frankreich (dabei standen die Mitarbeiter des Drogenkonsumraums Abrigado in Luxemburg-Stadt den Franzosen bei der Einrichtung mit Rat und Tat zur Seite). Allerdings ist der geplante Drogenkonsumraum in Esch-Alzette weiterhin nicht eröffnet. Auch das seit 2008 angekündigte (!) kontrolliertestaatliche Heroinabgabeprogramm für Schwerstabhängige wartet noch immer auf den finalen Startschuss. ik