„Ich finde das gut. Die Schwarz-Afrikaner wurden immer aufdringlicher und die Drogen, die sie verkauft haben, immer schlechter.“ Petz ist Luxemburger und Stammgast im Abrigado in der Route de Thionville. Dort schnüffelt der Mann mit den langen Haaren und Baseballkappe regelmäßig Kokain und Speed, trinkt mal einen Kaffee oder wärmt sich auf, wenn es draußen kalt ist. So wie heute. Gerade hat er sich eine Nummer von einer Mitarbeiterin am Tresen geben lassen. Fast wirkt es wie an der Käsetheke im Cactus oder im Bürgeramt: Als seine Nummer aufleuchtet, verschwindet Petz hinter der feuersicheren Tür auf einen der Plätze, wo er in Ruhe, steril und medizinisch überwacht, seinen Stoff rauchen kann. Etwa fünf Minuten später ist er wieder draußen und bereit, Fragen zu beantworten.
Denn die Szene ist in Aufruhr. Seit Januar hat die Polizei im Kampf gegen Drogen spürbar angezogen. Wiederholt gibt es Razzien in Cafés, zeigen Beamte, mit Hunden und ohne, massiv Präsenz rund um dem Hauptbahnhof, aber auch darüber hinaus. Es war im Oktober, als es Polizei und Zoll, gemeinsam mit belgischen Ermittlern, gelang, in einem Wohnhaus in Wasserbillig einen Drogenring auszuheben. „Das schlug Wellen bis in die Stadt“, bestätigt Pascal Peters, Vizechef der Abteilung Operationen und Prävention von der Police grand-ducale. Zuvor war der Alltag in der Rue de Strasbourg geprägt von überwiegend schwarz-afrikanischen Drogenhändlern, die spätnachmittags im Garer Viertel ihre illegalen Geschäfte abwickelten. Im hinteren Teil der Straße, gleich neben der Traditionsbäckerei Geyer, standen sie auf Gehwegen oder hingen in ihrer bevorzugten Kneipe am Tresen ab, meist hinter zugezogenen blauen Vorhängen. Inzwischen hat die Bar geschlossen und an der kaputten Glastür hängt ein zerfetzter Zettel, auf den jemand in krakeliger Schrift „Holidays two weeks“ geschrieben hat.
Holidays trifft es nicht ganz, die Schließung könnte länger andauern: 50 Verhaftungen, darunter 19 Nigerianer, lautete das – vorläufige – Ergebnis der Wasserbilliger Razzia. Auch Luxemburgs Drogenszene hat somit ihre Nigeria-Connection. Seit Jahren beobachten Fahnder in ganz Europa, dass im Geschäft mit den harten Drogen, vor allem bei Kokain und Crystal Meth, mehr und mehr Schwarz-Afrikaner mitmischen. Die Polizei hüllt sich über die Folgen der Wasserbillig-Razzia in Schweigen, um laufende Ermittlungen nicht zu gefährden, aber auch um ihre Taktik nicht zu verraten. Nur so viel: Um Crystal Meth gehe es nicht, sondern vor allem um Kokain. Und: „Wenn wir zuschlagen, dann reagieren die Dealer natürlich. Meist verlagert sich die Szene“, so Pascal Peters. Bei den anschließenden Razzien der vergangenen zwei Monate konnten 1,5 Kilo harter Drogen, sowie vier Kilogramm Marihuana beschlagnahmt werden.
Um kein Risiko einzugehen, haben sich die Straßendealer seitdem von den üblichen Treffpunkten etwas zurückgezogen. Tagsüber sind in der Rue de Strasbourg kaum mehr Dealer anzutreffen. In einem verlassenen Hauseingang kauern an diesem Morgen zwei Drogenabhängige und gucken verfroren. Abends kommt Bewegung in die Szene, sie verteilt sich auf Hollerich und die umliegenden Straßen. Besonders Gewiefte sind auf den öffentlichen Transport umgestiegen: Dort tauschen Dealer und Kunden in blitzschnellen Momenten gegen Geld kleine Alupäckchen oder in Zellophan gewickelte „Bubbles“ aus. Eine Kugel gestrecktes Kokain kostet um die 15 Euro. Allzu sicher sollten sie sich dabei aber nicht fühlen: „Wir kontrollieren vermehrt Züge und andere Transportwege; nicht nur in der Stadt, im ganzen Land“, betont Polizist Peters. 500 Leute und 150 PKWs wurden seit Beginn der Anti-Drogen-Offensive kontrolliert, darüber hinaus führen Beamte Stichproben an der belgischen Grenze durch.
Für die Konsumenten, die oft schon Jahre an der Nadel hängen, bedeutet das: mehr Aufwand bei der Drogenbeschaffung und ergo mehr Druck. „Sie sind nervöser und werden schneller aggressiv, weil sie keinen Stoff finden“, beobachtet Patrick Klein. Der Sozialpädagoge und Leiter des Bonneweger Abrigado weiß, wie die Szene tickt. Entsprechend gelassen beobachtet er die jüngsten Polizeiaktionen: „Natürlich bekommen wir die Auswirkungen zu spüren“, sagt er. Der Polizei macht er keinen Vorwurf, sie mache ihren Job und „das geht in Ordnung“. Eine stille Abmachung zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Abrigado sorgt dafür, dass im Umkreis von rund 100 Metern um den grauen Containerkomplex die Beamten nicht kontrollieren. Das sei nach wie vor so. „Wenn es Probleme gibt, stehen wir in Kontakt“, sagt Klein. Nur die Abstimmung mit der Gemeinde, die mit der Polizei zusammenarbeitet, könnte besser sein: „Kooperation ist das A und O“, so Klein, der sich fragt, wie die nationale Drogenpolitik mit der lokalen vernetzt wird: Trotz ihrer über 110 000 Einwohner und obwohl sich hier die größte Drogenszene im Land befindet, hat die Stadt keinen eigenen Drogenplan, bestätigt Luc Federspiel, Leiter des Sozialdienstes. Man orientiere sich am nationalen Aktionsplan und arbeite mit diversen Einrichtungen zusammen, darunter die CFL, mit der die Stadt neuerdings den sozialen Treffpunkt „Parachute“ direkt am Hauptbahnhof aus der Taufe gehoben hat. Über die Konsequenzen für die Szene wurde im Vorfeld der Polizeiaktionen aber offenbar nicht näher beraten.
Von den Razzien solle sich niemand zu viel versprechen, dämpft Klein überzogene Erwartungen. Die ältere Dame mit schlohweißem Haar und blumigem Schal in der Rue de Strasbourg kann das nicht erschüttern. Sie freut die Polizeipräsenz. „Die Afrikaner haben sogar am helllichten Tag an der Schule und am Kinderspielplatz gedealt. Dort“, sagt sie empört und zeigt mit dem Finger die Straße hinauf. „Jetzt ist Ruhe.“ Ihre Begleiterin ist nicht ganz so optimistisch: „Mal sehen, für wie lange“, sagt sie trocken.
Die jüngsten Aktionen seien nicht der einzige Beleg dafür, dass die Polizei etwas gegen den Drogenhandel unternehme, mahnt Pascal Peters: „Wir ermitteln die ganze Zeit, auch verdeckt. Nur weil der Bürger uns nicht sieht, heißt das nicht, dass wir untätig sind.“ Peters nennt Zahlen: Gegenüber dem Vorjahr hätten seine Kollegen 2015 neun Prozent mehr Drogendelikte erfasst. Das bedeute nicht, dass es mehr Dealer und Drogen gibt, aber dass der Drogenmarkt „im Fokus der Polizei bleibt“. Die Aufklärungsquote bei Drogendelikten ist hoch: Nehmen Beamten einem Dealer oder einem Konsumenten den Stoff ab, ist dieser ihm in der Regel zuzuordnen.
Doch, dass durch mehr Polizeipräsenz die Drogenkriminalität abnimmt oder gar eine drogenfreie Welt möglich sei, wie es kürzlich Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) als Wunschziel formulierte, so weit will Polizist Peters nicht gehen: „Das ist vielleicht etwas idealistisch.“ Schließlich kommen die Drogen nach wie vor über die Grenzen, meistens aus den Niederlanden – und die Nachfrage besteht weiter, nicht nur bei den Langzeitabhängigen am Hauptbahnhof: Unter Jugendlichen stehen Cannabis und Ecstasy hoch im Kurs, Kokain findet Abnehmer auch in besseren Kreisen. Das wird sich nicht plötzlich ändern, nur weil die Polizei mit Unterstützung des Polizeiministers verstärkt einschlägige, als Drogen-Umschlagsorte bekannte Cafés filzt und versucht, deren Inhaber dranzukriegen. Das ist leichter gesagt als getan: Den Besitzern ist oft nicht nachzuweisen, dass sie direkt für die Drogengeschäfte ihrer Kundschaft verantwortlich sind. Die meisten behaupten später, sie hätten nichts davon gewusst.
Polizei und Staatsanwaltschaft sind deshalb dazu übergegangen, Barbesitzern mittels Hygieneklagen und Sicherheitsauflagen das Leben schwer zu machen. Al Capone-Strategie nennt Polizeiminister Etienne Schneider (d‘Land, 5.2.16) dieses Vorgehen. Chicagos berüchtigster Gangster verdiente in den 1920-er und 30-ern Millionen mit illegaler Alkoholproduktion und Drogenschmuggel. Er ermordete unliebsame Kontrahenten, war für seine Brutalität und Gewalt im ganzen Land bekannt – und doch konnten ihm die Behörden nichts nachweisen. Erst als die Polizei seine Geldgeschäfte unter die Lupe nahm, wurde er wegen Steuerdelikten verhaftet und verurteilt. Allerdings: Mit Al Capones Zeiten ist der Drogenmarkt in Luxemburg nicht zu vergleichen: Nicht familiäre Strukturen prägen die Szene, auch die Korruption bei der Polizei dürfte kaum vergleichbar sein und Morde zwischen rivalisierenden Kartellen gibt es auch keine: „Rivalisierende Gruppen haben wir hier nicht“, so Pascal Peters.
Gruselgeschichten von skrupellosen Händlern, die bewusst gepanschten Stoff verkaufen, hält der Polizei-Vizechef ebenfalls für übertrieben. „Dann würden sie Kunden verlieren.“ Auch wissenschaftlich ist die These nicht haltbar: 2015 betrug der Reinheitsgrad von Kokain hierzulande um die 41 Prozent. „Damit liegt Luxemburg im EU-Vergleich recht gut“, sagt Serge Schneider. Der Toxikologe des Staatslaboratoriums analysiert Drogenproben für die Polizei. „Die Qualität schwankt natürlich, die Proben variieren von 0,2 Prozent bis über 90 Prozent Reinheitsgehalt.“ Batteriesäure und Rattengift als Streckmittel, wie in der Szene gemunkelt wird, hat Schneider bisher nicht festgestellt: „Herkömmliche Streckmittel beim Kokain sind Zucker, das Betäubungsmittel Lidocain und das in der Veterinärmedizin eingesetzte Wurmmittel Levamisol.“ Beim Heroin sei das Bild etwas anders: Dort liegt der Reinheitsgrad laut Schneider „durchschnittlich bei 15 bis 17 Prozent“ (2015: 11,9%), allerdings mit beträchtlichen Schwankungen. Streckmittel sind üblicherweise Paracetamol (80%) und Koffein (20%). Vom „mündigen Konsumenten“ könne man jedenfalls nicht sprechen, sagt Claudia Allar, stellvertretende Leiterin des Abrigado: „Der Käufer weiß gar nicht, was er da einkauft und konsumiert. Das macht es gesundheitlich noch riskanter.“
Ein verknapptes Angebot habe für die Besucher des Treffpunkts spürbare Folgen: „Die Preise steigen, die Dealer verdienen mehr und den Konsumenten, die sich ihren Stoff über Kleinkriminalität und Prostitution verdienen, geht es noch schlechter“, warnt Patrick Klein. Auch Kollegin Allar glaubt nicht an ruhigere Zeiten: „Den Bürgern wird durch den polizeilichen Aktionismus etwas vorgegaukelt“, sagt sie. Wichtiger sei es, „eine Drogenpolitik zu machen, die auf wissenschaftlichen Fakten basiert“.
Dass der Krieg gegen Drogen nicht zu gewinnen ist, sehen mittlerweile immer mehr Politiker ein. Fast jeder vierte Europäer hat schon einmal Drogen probiert, an der Spitze der Beliebtheitsskala steht Cannabis, gefolgt von Kokain und Ecstasy, so eine Studie der Vereinten Nationen. Unter dem Titel: „Wider den Bann. Drogen sind gefährlich, aber noch gefährlicher ist die globale Drogenpolitik“, forderte Ex-UN-Generalsekretär Kofi Annan jüngst im Spiegel-Magazin eine neue, ideologiefreie Drogenpolitik. Der Krieg gegen Drogen sei weltweit nicht erfolgreich. Verbote hätten bislang „kaum eine Auswirkung auf das Angebot oder die Nachfrage nach Drogen“. Wenn Strafverfolgung in einem Bereich der Drogenproduktion Erfolge habe, werde sie einfach in eine andere Region oder in ein anderes Land verlagert. „Der Drogenhandel sucht sich eine andere Strecke, und die Drogenkonsumenten gehen zu anderen Substanzen über.“ Die Kriminalisierung vor allem der Konsumenten führe nur zu überfüllten Gefängnissen, warnt Annan weiter. In Luxemburg sitzt ein Drittel der Inhaftierten wegen Drogendelikten im Gefängnis.
Annan plädiert deshalb dafür, den privaten Konsum zu entkriminalisieren und auf Aufklärung über die gesundheitlichen Risiken zu setzen – wie das in Luxemburg teilweise geschieht. Man solle akzeptieren, „dass eine drogenfreie Welt eine Illusion ist“. Außerdem müsse man die „totale Unterdrückung der Drogen als Ziel aufgeben“. Das ist ohnehin heuchlerisch, weil einseitig und halbherzig: Harte und weiche Drogen werden bekämpft, darunter Drogen mit geringen gesundheitlichen Nebenwirkungen, während Zigaretten und vor allem Alkohol gesellschaftlich akzeptiert sind. Die USA waren jahrelang federführend im Krieg gegen illegale Drogen, erst ganz allmählich setzt ein Umdenken ein. Die EU bemüht sich zunehmend um eine wissenschaftlich basierte Drogenpolitik. Und eigentlich hatte die blau-rot-grüne Regierung ebenfalls versprochen, die nationale Drogenpolitik zu überdenken. Stattdessen wecken ihre Vertreter neuerdings Erinnerungen an dunkelste Zeiten der Prohibition: Zu den Lehren, die die USA aus ihrer Al-Capone-Strategie damals zogen, gehörte auch, den aussichtslosen Kampf zu beenden und stattdessen Steuern zu erheben.