Die „Halbwertszeit“ synthetischer Drogen habe sich enorm verkürzt, sagt Alain Origer. „In immer kürzeren Zeitabständen kommen neue Varianten gefährlicher Drogen auf den Markt“, warnt Luxemburgs Drogenbeauftragter. 560 neuartige psychoaktive Stoffe (NPS) überwacht die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) in Lissabon laut ihrem aktuellen Drogenbericht mittlerweile europaweit, Ende 2012 waren es 236 gewesen.
Unter Konsumenten kursieren sie als Kräuter- oder Räuchermischungen, Badesalze, Luftreiniger, Partypillen oder „Research chemicals:“ In ihrer Kreativität, neue Molekülanordnungen zu erfinden, die vom Gesetz nicht erfasst und, zeitweise, legal sind, sind Drogenproduzenten nicht zu stoppen.
In Luxemburg seien NPS „eher selten“, beruhigt die Polizei auf Land-Nachfrage. Beschlagnahmungen hierzulande lägen „im einstelligen Bereich“, Labore, die NPS herstellen, seien in Luxemburg nicht entdeckt worden. Größere Labore befänden sich in Belgien, Osteuropa oder China. Von 1 900 Stichproben, die die Polizei in diesem Jahr kontrolliert hat, wurden sechs positiv auf NPS getestet, dabei handelte es sich um zwei Substanzen. Bei Analysen, die 2015 im Rahmen des Partydrogen-Testprojekts Drugchecking durchgeführt wurden, wiesen sechs Prozent der Proben NPS auf, das Gros enthielt klassische Stoffe, wie Cannabis, Kokain und Amphetaminverbindungen.
Entwarnung kann trotzdem nicht gegeben werden: Denn die Szene der – meist jugendlichen – Konsumenten der Designerdrogen, wie sie wegen der synthetischen Herstellung genannt werden, entzieht sich weitgehend dem Blick der Ordnungshüter. Laut einer unveröffentlichten Studie des Drogenpräventionszentrum gaben 2013 befragte Konsumenten Neugier und neue Erfahrungen zu sammeln als Motivation für den Konsum von NPS ein. Sie experimentieren mit Freunden, bestellen ihre Ware im Internet, Kundige nutzen Gesetzeslücken gezielt aus. Denn: Viele NPS sind nicht verboten.
Die Zahl der Funde verdächtiger Drogenpost steige, berichtet Igor Verlaine vom Zollamt. Mal sind es kleine Pakete mit einigen Hundert Pillen, manchmal geht der Fund in die Tausende. Die meisten werden, weil legal, auf einschlägigen Internetseiten bei ausländischen Headshops bestellt: „Ein paar Klicks und wenige Tage später ist die Bestellung in der Post“, beschreibt Verlaine das „Geschäft in der Grauzone“.
Bisher spielen synthetische Kräutermischungen und so genannte Legal Highs nur eine kleine Rolle auf Partys, Festivals und in Cliquen. Synthetische Cannabinoide, in ihrer psychoaktiven Wirkung um ein Vielfaches stärker als der Cannabis-Wirkstoff THC, wurden in Luxemburg 2009 verboten. Andere Produkte sind nicht reguliert; im Zweifelsfall, wenn sich die Zollbeamten nicht sicher sind, schicken sie verdächtige Proben an die Staatsanwaltschaft, die den Stoff im Staatslaboratorium prüfen lässt. Ist er nicht verboten, darf der Empfänger die Sendung behalten, lebt aber mit dem Risiko, nicht sicher sein zu können, dass seine Ware das enthält, was das Label verspricht.
Das kann wie russisches Roulette sein. Luxemburg blieb von Todesmeldungen bisher verschont. In Deutschland stieg laut Bundeskriminalamt die Zahl der Todesopfer durch „Legal Highs“ von 25 im Jahr 2014 auf 39 (2015). Experten gehen zudem von einer hohen Dunkelziffer aus. In Großbritannien, das Land mit den meisten Legal Highs und über 250 registrierten „Headshops“, sorgen psychoaktive Substanzen seit Jahren für Negativschlagzeilen. Als Reaktion auf mögliche Gesundheitsrisiken entschied die dortige Regierung, NPS ganz zu verbieten. Seit dem 26. Mai gilt dort ein pauschales Verbot für psychoaktive Substanzen, ausgenommen sind Alkohol, Koffein und Zigaretten. Für David Nutt ein Unding: Die Gefahr der Legal Highs würde zur „moralischen Panik“ hochgeschrieben, ähnlich wie zuvor Cannabis und Heroin, schreibt der britische Pharmakologe im Guardian. Statt Gesundheitsrisiken wissenschaftlich zu analysieren, landeten psychoaktive Stoffe pauschal auf dem Index. Dahinter stehe ein unrealistisches Ideal einer Drogenabstinenz, während nachweislich gefährliche Rauschmittel wie Alkohol und Zigaretten geduldet würden.
Das Ideal hat, trotz jahrzehntelangem, erfolglosem „War on drugs“ weiter Anhänger: Vor kurzem legte das schwarz-rote Kabinett in Berlin einen Gesetzentwurf vor, der neben synthetischen Cannabinoiden die Produktion und den Verkauf von 2-Phenythylamin abgeleiteten Verbindungen, mit Amphetaminen verwandte Stoffe, und Kathinone, untersagt. Weil der Europäische Gerichtshof im Juli 2014 urteilte, dass Stoffe, die einen Rausch verursachen, ohne medizinische Wirkung zu entfalten, nicht vom deutschen Arzneimittelgesetz gedeckt sind, war eine Regelungslücke entstanden, die die Bundesregierung schließen will.
Doch die Vorlage, die ganze Stoffgruppen unter Strafe stellt, ist unter Experten ähnlich umstritten wie das britische Pendant: „Wir brauchen eine Strategie, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und Vernunft basiert statt auf politischen Tabus“, so Heino Stöver, Ko-Autor des Alternativen Drogen- und Suchtberichts, der eine Kehrtwende in der repressiven deutschen Drogenpolitik fordert.
Luxemburg kennt bisher kein generelles Verbot für Designerdrogen, was nicht heißt, dass die Regierung untätig wäre: Während der EU-Präsidentschaft im 2015 war das Land treibende Kraft hinter dem Bemühen, eine neue EU-Rahmenrichtlinie zu formulieren, die die Richtlinie von 2005 zu psychoaktiven Substanzen ablösen und es ermöglichen soll, psychoaktive Substanzen temporär vom Markt zu nehmen. Die Idee klingt einleuchtend: Weil Polizei und Gesundheitsbehörden der Flut neuer Drogen nicht Herr werden, sollen mutmaßlich gesundheitsschädigende NPS mit einem provisorischen Bann belegt werden können, ohne dafür ein kompliziertes langwieriges Gesetzesverfahren einzuleiten. Die Drogenbeobachtungsstelle EMCDDA würde in dieser Zeit die Substanzen auf ihre tatsächlichen gesundheitlichen Wirkungen überprüfen, danach könnten weitergehende gesundheitspolitische, regulatorische und polizeiliche Maßnahmen erfolgen.
Doch auch der EU-weite Ansatz ist nicht unumstritten: Zum einen wehren sich Länder wie das EU-skeptische Großbritannien vehement dagegen, diese Kompetenz an Brüssel abzutreten. Die Europäische Kommission hat sich zudem verpflichtet, ihre Drogenpolitik strikt auf wissenschaftlichen Kriterien zu basieren. Schnelle Verbote geben jedoch Anlass für Zweifel: 2011 wurde das mit Kokain vergleichbare Mephedron (4-Methylmethcathinon) von der EU verboten, nachdem der Tod zweier junger Männer mit dem Cathinon-Derivat in Verbindung gebracht wurde. Später stellte sich heraus, dass die Männer das synthetische Opioid Methadon zusammen mit Alkohol eingenommen hatten, ein tödlicher Mix. Medien berichten häufig vorschnell bei Todesfällen, die mit Partypillen geschehen, von tödlichem Ecstasy, obwohl sich später oft herausstellt, dass nicht MDMA, sondern das gefährlichere Paramethoxyamphetamin oder Paramethoxymethamphetamin (PMA und PMMA) zum Tod führte. Auch PMMA wirkt berauschend, doch die Wirkung tritt später ein, weshalb Partygänger die Droge irrtümlich zu hoch dosieren, in der Annahme, sie wirke nicht. Eine zu hohe Dosis kann zu Koma und Tod führen.
Selbst wenn MDMA in Reinform vorliegt, ist der Konsum nicht ohne Risiko: Zu hoch dosiert, oder wenn der Konsument zu wenig trinkt oder bereits gesundheitlich belastet ist, kann es zu Komplikationen (Überhitzung, Psychosen) kommen. Immer wieder tauchen Pillen auf, die 200 und mehr Mikrogramm MDMA enthalten, als gesundheitlich unbedenklich gilt eine maximale Dosierung von 90 Mikrogramm.
Experten weisen auf eine weitere Gefahr hin: NPS simulieren im Prinzip ähnliche Wirkungen wie das verbotene LSD oder Cannabis, zwei Substanzen, die bei regelhaftem Gebrauch durch gesunde Erwachsene als unbedenklich gelten. Mitarbeiter von Suchthilfeeinrichtungen berichten, dass Jugendliche (und Erwachsene) auf synthetisches Cannabis zurückgreifen, die Urinproben umgehen, aber denselben berauschenden Effekt erleben wollen. Experten interpretieren die Schwemme immer neuer Variationen auf dem Drogenmarkt daher als Folge der Verbots-politik klassischer, medizinisch gut erforschter Drogen wie LSD, Psilocybin oder Cannabis. Es ist ein Katz’-und-Maus-Spiel: Produzenten und Konsumenten versuchen, bestehende Gesetzeslücken auszunutzen. Wird eine Substanz unter Strafe gestellt, versuchen sie mit neuen Molekülanordnungen das Verbot zu umgehen. „Das bedeutet, dass die nächste Generation womöglich noch gefährlicher ist und Konsumenten immer seltener wissen, was sie eigentlich schlucken“, warnte der US-Drogenexperte Tarik Najeddine jüngst auf einer internationalen Konferenz zu psychedelischen Substanzen in Amsterdam. Statt daraus politische Schlussfolgerungen zu ziehen und die prohibitive Praxis grundsätzlich zu hinterfragen, setzen Regierungen und Parlamente unbeirrt auf Verbote. Der Zusammenhang zwischen Repression und der schneller drehenden Drogenspirale wird indes kaum thematisiert. Auch der Entwurf der EU-Kommission, der bei der Gefährlichkeit der Substanzen immerhin eine Abstufung vorsieht, löst das Problem nicht, zumal Mitgliedstaaten eigene, strengere Gesetze erlassen können.
Noch etwas kommt hinzu: Forschung an den Substanzen werden durch Pauschalverbote erschwert. Zwar sehen verschiedene Gesetze Ausnahmen für wissenschaftliche Studien vor. Diese zu beantragen, dauert oft Monate, wenn nicht Jahre, sagt der Pharmakologe David Nutt. Nutt weiß, wovon er spricht: Sein Team am Londoner Imperial College veröffentlichte kürzlich erste Ergebnisse einer viel beachteten LSD-Pilotstudie. Nutt und Kollegen haben sich in einem Gutachten daher entschieden gegen ein Pauschalverbot psychoaktiver Substanzen ausgesprochen. Vergeblich.
In Luxemburg ist von diesen Debatten nichts zu hören: Im Ausland wird das Großherzogtum dank Drogenkonsumraum, Heroinabgabe für Schwerstabhängige und Drug-Checking als recht fortschrittlich eingestuft. Die Wirklichkeit ist ambivalenter: Denn obwohl das Land bei der Behandlung schwerster Drogensucht wissenschaftlich anerkannte Ansätze verfolgt, hinkt es beim Umgang mit psychoaktiven „Freizeit“-Drogen – das schließt Alkohol ein – Ländern wie der Schweiz, Portugal oder Spanien hinterher.
Ein viel versprechendes Drogentestprogramm, bei dem Konsumenten Partypillen testen lassen können, wurde gestoppt, weil es im zuständigen Drogenpräventionszentrum inhaltliche Differenzen gab. Öffentlich spricht niemand darüber, doch in den Kulissen schwelt seit längerem ein Richtungsstreit: In Luxemburg träumen selbst Suchthelfer, die es besser wissen müssten, von einer Welt ohne Drogen und blenden die Realität aus: Auch hierzulande werden Cannabis-Konsumenten immer jünger, Verbote von Cannabis, Ecstasy und Co ändern nichts an ihrer Beliebtheit. Eine Konferenz im Oktober in Luxemburg mit David Nutt, der eben diesen Widerspruch benennt und für einen pragmatischen, wissenschaftlich fundierten Umgang mit Drogen plädiert, ohne die Risiken zu verschweigen, führte zum Eklat, weil die Leitung des Drogenpräventionszentrum damit nichts zu tun haben wollte. Inzwischen wurde der Leiter abgesetzt. Das erklärt vielleicht, warum viele innovative Impulse der Suchtbekämpfung und Risikominderung hierzulande aus dem Gesundheitsministerium statt von der Suchthilfe kommen.
Auch in der Politik fehlt es an Expertise. Der einzige Abgeordnete, der sich des Thema annahm, der Ex-ADR-Abgeordnete Jean Colombera, verließ die Partei und wurde prompt nicht mehr gewählt. Drogenpolitischen Sachverstand sucht man seitdem auf dem Krautmarkt vergeblich. Selbst die Grünen, einst Fürsprecher einer progressiven Drogenpolitik, sind abgetaucht, viel mehr als die Forderung der jungen Grünen, Cannabis zu legalisieren, ist von ihnen in der Sache nicht zu hören. Eine bedingungslose Freigabe ist indes nicht ungefährlich: René Meneghetti von der Drogenberatung Impuls warnt insbesondere junge Konsumenten davor, die Wirkung der Droge nicht zu unterschätzen: „Die meisten wissen nicht, dass der Konsum von Cannabis im jungen Alter nicht ungefährlich ist: Die Inhaltsstoffe können sich negativ auf das Gehirn, die Atem- und die Geschlechtsorgane auswirken.“ Cannabis-Konsum könne zudem abhängig machen und Psychosen auslösen. Meneghetti plädiert für ein Verbot für unter 21-Jährige und für mehr Information und Prävention, damit junge Erwachsene „verantwortlich wählen können“.