Macht Cannabis dumm und abhängig? Was tun, wenn ein Jugendlicher auffällig oft nach Cannabis riecht und in den Leistungen nachlässt? Wie feststellen, ob ein Konsum besorgniserregend ist? Das sind Fragen, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars Cannabiskoffer 2.0 – Methoden für die präventive Praxis stellen, das erstmalig dieses Jahr stattfand. Und zu denen, sollten sie nicht von den beiden Dozenten Luc Both und Christian Thiel beantwortet werden können, in einem Aktenordner wissenschaftlich fundierte Antworten stehen. Der grüne Wälzer ist Teil besagten Cannabis-Koffers, den Both gemeinsam mit Kollegen und anderen Erziehern aus Erfahrungen aus vorigen Präventionsseminaren entwickelt hat und mit dem er nun durch das Land tourt. Sogar Hanf hat er dabei: Auf der grünen Tasche, „Koffer klingt besser“, sagt Both, prangt das Hanf-Logo. Humor und Lockerheit sind wichtig, um ein brisantes, polarisierendes Thema wie jugendlichen Drogenkonsum und die damit verbundenen Risiken altersgemäß aufzuarbeiten.
Immer mehr Jugendliche in Luxemburg kommen mit dem Rauschmittel in Kontakt. Laut nationalem Drogenbericht Relis 2017 haben geschätzte 18 Prozent der 15-Jährigen bereits einmal in ihrem Leben an einem Joint gezogen. In Luxemburg liegt das Alter des Erstkonsums mit 15 Jahren etwas höher als im EU-Durchschnitt, aber dass Cannabis auch hierzulande zur Volksdroge neben Alkohol und Tabak wird, merkt jede, die sich in der Nähe eines Jugendhauses, ein Konzerts oder Festivals besucht.
Das Centre de prévention des toxicomanies (CEPT) in der Hauptstadt will problematischem Drogenkonsum vorbeugen helfen – und hat dafür zwei neue Fortbildungen im Programm. Die eine, der Cannabiskoffer, ist ein echter Renner: Zweimal wurde das Seminar bisher angeboten, in den Räumen des Service national de jeunesse in Marienthal und am Lehrer-Weiterbildungsinstitut Ifen in Walferdingen, jedes Mal war es voll belegt und die zehn Exemplare des Suchtkoffers sind bereits verkauft, wie Both mitteilt. Das liegt womöglich an der vorurteilsfreien und interaktiven Art, wie das CEPT das Thema angeht: Zwei Suchtbrillen simulieren, wie sich mit drei Promille Alkohol im Blut Sichtfeld, also Wahrnehmung, und motorisches Gleichgewicht verändern. Ein Selbsttest bringt den Beweis: Das erste orangene Hütchen, durch die Brille in doppelter Ausführung zu sehen, fliegt gleich im ersten Salonlauf um, die Wand kommt gefährlich nahe.
Noch schriller der Effekt der Fliegerbrille, die per Brechungen im Plastikglas die visuellen Muster nachstellt, die bei einem Drogentrip auftreten können. „Spätestens da ist jeder begeistert dabei“, sagt Luc Both. Verständlich, denn durch die Brille zeigt sich die Welt in Regenbogenfarben, nicht so psychedelisch-verzerrt wie für Johnny Depp im Kultfilm Fear and Loathing in Las Vegas. Aber dass sich so kein Auto mehr steuern lässt und defensives Verhalten das Gebot der Stunde ist, sollte nach der Erfahrung selbstverständlich sein. Ist es aber nicht, wie ein – nüchterner – Blick in die Verkehrsstatistik zeigt: Von insgesamt 29 tödlichen Unfällen in Luxemburg im Jahr 2016 wurden vier mit Alkohol, drei mit anderen Rauschmitteln verursacht. Zählt man die Unfälle mit Schwerverletzten hinzu, wurden in zwölf Fällen psychoaktive Substanzen wie das berauschende THC von Cannabis im Blut der Fahrer gefunden, und in je einem Überreste von MDA und MDMA, im Volksmund Ecstasy genannt.
Nicht nur die Risiken von Drogenkonsum auf die eigene Gesundheit und das eigene Verhalten werden häufig unterschätzt, auch über die Rechtslage in Luxemburg kursieren immer wieder Falschinformationen: Der Konsum von Cannabis ist, geradeso wie von LSD, Ecstasy oder anderen psychoaktiven Substanzen, hierzulande verboten. Darauf stehen bis zu 2 500 Euro Geldstrafe. Wer beim Anbau oder Verkauf erwischt wird oder gar Minderjährige zum gemeinsamen Joint anstiftet, riskiert sogar Freiheitsstrafe. Jeder von der Polizei ertappte Kiffer wird der Staatsanwaltschaft gemeldet. Gerichte können die Teilnahme etwa am Suchthilfeangebot des Dienstes Impuls für Jugendliche mit auffälligem Drogenkonsum als Maßnahme auferlegen. Derzeit sind bei den Impuls-Experten 230 Jugendliche und ihre Familien in Beratung.
Besser ist, es kommt gar nicht erst so weit. Besonders in Schulen ist Suchtprävention wichtig. Sie wird nicht nur von den Sozialpädagogen der Suchthilfeorganisationen angeboten, auch die Polizei ist systematisch präsent: 2017 hielten Beamte der polizeilichen Präventionsstelle 360 Kurse, das waren 793 Stunden (2016: 960), dies sowohl in Grund- als auch in Sekundarschulen. Ihr schulischer Einsatz ist traditionelles Standbein, das im Ausland allerdings auch skeptisch gesehen wird: Als Strafverfolgungsorgan ist die Polizei im Kampf gegen Drogen aktiv und setzt dabei in erster Linie auf Repression. Ihr Ansatz ist – und muss sein –, jeglichen Konsum von illegalen Drogen zu unterbinden, während Präventionsexperten gesundheitliche Aspekte und Grundsätze wie Aufklärung und Risikovermeidung beziehungsweise, wo das nicht geht, Risikominimierung hochhalten.
Um zu illustrieren, warum völlige Abstinenz als Präventionsansatz fragwürdig ist, erzählt Luc Both in seinen Kursen das Märchen von Dornröschen. Die Geschichte vom Mädchen, das mit einem Fluch belegt wird, demzufolge es an einer Spindel sterben wird, dessen Vater daraufhin alle Spindeln im Land verbrennen lässt – und das dann einen Webstuhl auf dem Dachboden findet, sich dort mit der Spindel sticht und stirbt, steht für den gut gemeinten, aber zum Scheitern verurteilten Versuch, das Kind vom Übel fernzuhalten. Ausgerechnet auf dem heimischen Dachboden findet sie den Tod. „Hätten die Eltern ihre Tochter stattdessen über den Fluch aufgeklärt, sie vor der Nadel gewarnt und ihr einen Fingerhut gegeben, um sich zu schützen, wäre die Geschichte vielleicht anders ausgegangen“, spekuliert Luc Both mit einem Augenzwinkern.
Anstatt Rauschmittel zu verteufeln und Konsumenten zu stigmatisieren, sei es wichtig, Jugendliche auf die gesundheitlichen Risiken hinzuweisen. „Es gibt keinen Konsum psychoaktiver Drogen ohne Risiko“, betont Both. Allerdings lassen sich Risiken insofern minimieren, als es Regeln gibt, die beim Konsum zu beachten sind, um die Partynacht unbeschadet zu überstehen. Statt sie in oft dubiosen Internet-Blogs zu suchen, sind Suchthilfeeinrichtungen in Europa dazu übergegangen, Informationen über Zusammensetzung und Wirkungsweise psychoaktiver Substanzen möglichst vorurteilsfrei und wissenschaftlich korrekt zu beschreiben, manche, wie www.drogen-info-berlin.de in Deutschlands Partymetropole, geben Hinweise, wie ein „mündiger Konsum“ aussehen kann. Partygängerinnen werden aufgeklärt, dass beispielsweise die Wirkung von MDMA bei Frauen und Männern unterschiedlich ist: Frauen landen öfter mit Überdosierungen in der Notaufnahme, die häufiger tödlich verlaufen, wahrscheinlich wegen ihres durchschnittlich geringeren Körpergewichts. Das CEPT hat den vorurteilsfreien Ansatz ins Netz übertragen, die Drogeninfos lesen sich nicht wie Schauermärchen, auch positive Seiten eines Rauschs sind beschrieben: das High-Sein, die Lust auf Geselligkeit, sexuelle Enthemmung. Je nachdem.
Das ist schon eine echte Wende in der Suchtprävention und Drogenaufklärungsarbeit, die in Europa immer mehr zum Standard wird, aber hierzulande offenbar noch nicht zu allen durchgedrungen ist. Vor zwei Jahren formulierte Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) komplett irrealistisch eine „drogenfreie Welt“ als Wunschziel. Dabei steht die Verbotspolitik der 1960-er Jahre aufgrund massiver Kollateralschäden wie hunderttausende Tote, Schwarzmarkt, organisierte Kriminalität wie nie zuvor in der Kritik und ist der Vormarsch der Freizeitdrogen nicht mehr zu stoppen. Both und sein Kollege suchen und geben in ihren Kursen auf die Frage nach einer zeitgemäßen Drogenpolitik keine Antwort, auch wenn diskussionsfreudige Teilnehmer dies vielleicht wünschen. „Wir sind Experten der Prävention, die Politik machen andere“, sagt Both.
Er und seine CEPT-Kollegen geben nicht nur Cannabis-Seminare, um Lehrer und Erziehungspersonal mit dem Kraut und seinen Risiken vertraut zu machen. Sie haben einen weiteren, Kurs im Repertoire: das Rebound-Projekt. Die Methode wurde von einem Team um den deutschen Drogen- und Präventionsforscher Henrik Jungaberle (damals Heidelberg, heute Berlin) entwickelt und ist, wie Both betont, das einzige Präventionsprogramm, das in Deutschland wissenschaftlich begleitet und dem ein Effekt auf jugendliches Verhalten nachgewiesen wurde. Jungaberle ist Koautor des populären Aufklärungsbuchs High Sein, das offen, unhysterisch und wissenschaftlich untermauert über Gefahren und über berauschende Effekte psychoaktiver Substanzen aufklärt. „Wir können das natürlich verdrängen und ablehnen und versuchen, Drogen gesetzlich auszuschließen, aber die tun’s ja trotzdem“, so Jungaberle in einem Interview mit der Zeitung Die Zeit. High-Sein sei okay, die Frage sei vielmehr, welche Form – und welche Folgen übermäßiger Drogenkonsum habe.
Ausgehend von der Prämisse, dass die Lust auf Rauscherfahrungen die menschliche Existenz schon immer geprägt hat, plädieren er und Koautor Jörg Böckem dafür, umfassend aufzuklären. „Konsumkompetenz“ und „Drogenmündigkeit“ sind Schlüsselwörter. Gemeint ist nichts anders, als dass Menschen, die Rauschmittel nehmen, Vor- und Nachteile mit klarem Kopf abwägen, ihre Risiken realistisch einschätzen können. Das setzt voraus, dass die Informationen korrekt und komplett sind. Jungaberle kritisiert unter anderem, dass Forschung und Prävention sich zu lange vor allem auf den problematischen Konsum konzentriert hätten und dabei aus dem Blick geraten sei, wie viele Menschen sich bewusst in Rauschzustände versetzen, ohne ärztliches Attest und illegal, und trotzdem ein normales Leben führen. Im Gesundheitsmagazin Lancet veröffentlichte Schätzungen zufolge liegt der problematische Konsum von Rauschmitteln bei elf Prozent, das variiert je nach Substanz: bei Alkohol ist die Rate höher, bei Cannabis ebenso, bei Opiode bei über 20 Prozent, bei anderen, wie LSD beispielsweise, deutlich darunter. Jeglicher Konsum psychoaktiver Substanzen sei nicht ungefährlich, so Jungaberle, entscheidend sei aber, wie die Gesellschaft und der Einzelne mit dem Risiko umgehen. Nicht jede, die öfters Rauschmittel konsumiere, sei zwangsläufig süchtig oder krank.
„Der Ansatz von Rebound ist nicht nur besser, weil er wissenschaftlich evaluiert wurde“, so Luc Both. Der ganzheitliche Blick auf die Jugendlichen, ihre Interessen, ihr Lebensumfeld haben ihn und das CEPT überzeugt. Der Akzent von Rebound, wo Jugendliche Videofilme über sich und ihr Verhältnis zu Sucht und Rausch drehen, liegt darauf, die Fähigkeit zu trainieren, sich auf gesunde Weise Freude, Action oder Entspannung ins Leben zu holen. Dabei geht es eben nicht nur um Rauschmittel und darum, die Risiken realistisch einzuschätzen. Sondern insbesondere darum, sich selbst, den eigenen Körper, das eigene Konsumverhalten, die eigenen Lebensumstände zu kennen: Gibt es Angehörige mit problematischem Konsum und Suchtepisoden? Zählt man selbst zur psychose-gefährdeten Risikogruppe, weil in der Familie jemand psychiatrisch vorbelastet ist? Versucht man durch Rausch von anderen belastenden Erlebnissen abzulenken und lässt sich nicht auch aus anderen Aktivitäten der gewünschte Kick ziehen? Was ist mit unbekannten Krankheiten? Wer trotzdem konsumiert, sollte die rechtlichen Konsequenzen kennen. Einen Freibrief für unbedenkliches High-Sein gibt es auch von Rebound nicht. Wenn das Projekt in Luxemburg weitergeht: Der erste Teil, Kostenpunkt: einige Tausend Euro, bei dem die Methode für Luxemburg angepasst und übersetzt wurde, ist abgeschlossen, für den zweiten steht laut CEPT-Leiter Michel Ledoux die Finanzierung noch nicht.