Cool, kühler, Merkel? Fast emotionslos hat Angela Merkel am Mittwoch ihre Flüchtlingspolitik in einer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag in Berlin verteidigt. Es ist seit längerem gute politische Sitte, dass die deutsche Kanzlerin ihre europäische Politik den Bundestagsabgeordneten vor einem europäischen Gipfeltreffen erläutert. An diesem Donnerstag und Freitag findet der routinemäßige Frühlingsgipfel der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel statt. Aber routinemäßig ist nichts an diesem Treffen.
Ginge es normal zu, würden sich die Chefs der 28 Mitgliedstaaten lang und breit mit dem wirtschaftlichen Zustand auseinandersetzen, denn der Zustand der Ökonomie ist das traditionelle Thema eines Frühlingsgipfels. Das zu Beginn der Eurokrise eingeführte europäische Semester böte genug Diskussionsstoff für weit mehr als zwei Tage. Frankreich, Italien, Portugal, die Bankenkrise, die verzweifelte Politik der Europäischen Zentralbank, die Diskussion über eine weitere Vertiefung der Eurozone und die Berufung eines Euro-päischen Wirtschaftsministers sind nur die wichtigsten Themen. Die Europäische Union hat große Schwierigkeiten, die Folgen der Finanzkrise endlich hinter sich zu lassen, aber wirtschaftliche Themen wurden nur am Donnerstagnachmittag besprochen. Schon beim Abendessen stand das Thema Flüchtlinge auf der Speisekarte.
Die deutschen Wahlen in drei Bundesländern mit großen Erfolgen für die „Alternative für Deutschland“ (AfD), hat die politische Lage für die deutsche Bundeskanzlerin auch im Hinblick auf Europa verändert. Die Erfolge der AfD werden vielen von Merkels Kollegen als ein Menetekel erscheinen. Darüber hinaus markiert die Wahl für Deutschland das endgültige Ende der Nachkriegszeit. Die deutsche Bevölkerung hat sich normalisiert und wählt nun wie alle anderen europäischen Länder auch mit 15 bis 25 Prozent rechtspopulistisch. Die Sonderrolle, die Deutschland Jahrzehnte in Europa gespielt hat als das Land, dass durch den Zweiten Weltkrieg und die Vernichtung der europäischen Juden unfassbare Schuld auf sich geladen hat, wird nicht über Nacht aufhören, aber doch unweigerlich auslaufen. Mehr als 70 Jahre nach dem Krieg ist das im Grunde nicht verwunderlich. Allein dieser Umstand wird die europäische Politik langfristig nachhaltig verändern.
Kurzfristig aber geht es um die Lösung der Flüchtlingskrise. Spätestens seit dem letzten Sonntag ist offensichtlich, dass die oft als die mächtigste Frau der Welt beschriebene deutsche Bundeskanzlerin ihr eigenes politisches Schicksal nicht mehr allein entscheiden kann. Das Schicksal des Euros wurde noch von ihrer Regierung und im Deutschen Bundestag entschieden. In der Flüchtlingskrise ist Angela Merkel zur Bettlerin geworden. Ihre Analyse, dass die Flüchtlingskrise nur europäisch gelöst werden kann, wenn sie denn solidarisch und human gelöst werden soll, ist nach wie vor bestechend. Allein, ihre Regierungserklärung enthielt so viele Wenn und Aber, dass die Erfüllung all der genannten Bedingungen einem Lottogewinn gleichkommen würde. Angela Merkel ist auf den Status einer Fußballmannschaft herabgesunken, bei der die anderen verlieren müssen, damit die eigene Mannschaft nicht absteigt.
Das heißt aber auch, dass sie das Spiel trotz alledem noch gewinnen kann. Ihre Beharrlichkeit ist entweder große staatsmännische Kunst, Treue zu unverrückbaren inneren Werten oder einfache Blindheit vor der Wirklichkeit. Ihr Vorhaben die Türkei zur Rücknahme aller illegalen Flüchtlinge zu bewegen um im Gegenzug genauso viele Flüchtlinge aufzunehmen hängt von den vielen Faktoren ab.
Alle 28 EU-Staaten müssen dem Vorhaben, Kontingentflüchtlinge aufzunehmen und solidarisch zu verteilen, zustimmen und diesen Beschluss dann auch umsetzen. Mit diesem solidarischen Politikansatz scheitern Merkel und die Kommission schon seit einem halben Jahr und das trotz eindeutiger Beschlüsse des Europäischen Rates. Die Slowakei und Ungarn klagen gar gegen den Beschluss einer solidarischen Verteilung beim Europäischen Gerichtshof. Die Türkei muss für das Vorhaben erst einmal ein rechtsstaatliches Asylgesetz verabschieden und umsetzen. Jeder illegale Flüchtling muss in der EU ein individuelles Verfahren bekommen, das schreibt das Völkerrecht vor. Die EU will sich daran halten, das hat die EU-Kommission am Mittwoch noch einmal klargestellt. Die Türkei müsste zum Grenzschutz Nato-Schiffen den Zugang nicht nur zu den Gewässern um Lesbos, sondern zu allen Gewässern zwischen Griechenland und der Türkei erlauben. Die wiederum will mit allen Mitteln bis Ende Juni Visafreiheit erreichen. Bisher hat sie dazu 35 von 72 Bedingungen erfüllt.
Spanien besteht auf einer Abmachung im Rahmen der völkerrechtlichen Verpflichtungen. In Österreich hat die fremdenfeindliche Freiheitliche Partei in Umfragen mehr als zehn Prozent Vorsprung vor den Sozialdemokraten und der Volkspartei. Entsprechend klein ist der Spielraum von Bundeskanzler Werner Faymann. Das Abkommen mit der Türkei bezieht sich bisher nur auf Griechenland. Bulgarien, das eine gemeinsame Grenze mit der Türkei hat, wird nicht genannt. Zypern ist bisher nicht von der Türkei anerkannt, es soll dennoch der Öffnung von fünf weiteren Kapiteln in den Beitrittsverhandlungen zustimmen. Frankreich fürchtet den Front National so sehr, dass es nicht mehr als 30 000 Flüchtlinge aufnehmen will. Ungarn würde die EU am liebsten vollständig entmachten. Mit den europäischen Außengrenzen sind auch viele innereuropäische Schamgrenzen gefallen. Beides wieder herzustellen kommt einer Sisyphusarbeit gleich.