Irgendwann, in Retrospektive auf alle Ereignisse der Flüchtlingskrise, wird vielleicht das jüngste Treffen der Innen- und Migrationsminister der Europäischen Union darauf reduziert werden, dass es eben jener Tag war, an dem die Krise vollends aus dem Ruder lief und Europa erschütterte. „Wir haben keine Linie mehr, wir steuern irgendwie in die Anarchie hinein“, klagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, der auch für Migration zuständig ist, und zitierte Goethes Faust: „Mir graut’s.“ In Schuldzuweisungen übte sich Österreichs Innenressortchefin Johanna Mikl-Leitner: „Griechenland sagt immer, es könne die Außengrenzen nicht schützen. Das ist das beste Argument dafür, dass andere handeln müssen.“ Ihr griechischer Ressortkollege Ioannis Mouzalas kontert: „Zu einseitigen Aktionen ist auch Griechenland fähig.“
Mittendrin Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière, der sich bemühte, die Situation nicht eskalieren zu lassen: „Keine nationalen Alleingänge, wir brauchen eine europäische Lösung.“ Fast mantraartig beten er und Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Satz. Gerade in Hinblick auf kommende Ereignisse wie den EU-Türkei-Gipfel am Montag.
Immerhin: Vergangene Wochen erzielten Griechen und Türken eine erste Verständigung über die Bewachung der Seegrenze durch Nato-Einheiten. Demnächst soll der Nato-Marineverband SNMG 2 mit seiner Patrouille in der Ägäis beginnen: „Jetzt kommt es darauf an, dass die Zahl der Flüchtlinge, die nach Griechenland kommen, erheblich zurückgeht“, so de Maizière. Zumal im deutschen Bundestag genau dafür weitere Weichen gestellt worden waren: Die Parlamentarier verabschiedeten das sogenannte Asylpaket II. Es sieht vor, Flüchtlinge künftig schnell – oder schneller – aus Deutschland abzuschieben, für bestimmte Flüchtlingsgruppen das Anerkennungsverfahren in Registrierzentren zügiger abzuschließen und den Familiennachzug einzuschränken. 429 Abgeordnete votierten mit Ja, 147 mit Nein.
Zur Entspannung beim EU-Innenminister-Gipfel trug die Abstimmung im Bundestag nicht bei. Denn auf den hellenischen Inseln trafen 7 000 neue Flüchtlinge ein. In den vergangenen Tagen hatten weitere 12 000 Menschen griechische Strände erreicht. Eine Zahl, bei der sogar die Österreicherin Mickl-Leitner erkannte: „Natürlich braucht Griechenland die Unterstützung der Partner.“ Um dann festzustellen, die EU habe bis 2013 bereits 318 Millionen Euro an Athen gezahlt, um die Probleme vor Ort zu beheben. Bis 2020 summiere sich die Unterstützung sogar auf 800 Millionen Euro.
Genau daran zeigt sich die Alternativlosigkeit von Merkels Kurs in der Flüchtlingskrise. Wenn einzelne Länder ihre nationalen Grenzen schließen, verlagert sich das Problem – bis es nun Griechenland trifft. Das schwächste Glied in der Kette: Ein Land, das durch die Euro-Krise in seinen Grundfesten erschüttert ist, muss nun auch noch die Bürde der fehlenden europäischen Solidarität in der Flüchtlingskrise tragen. Wenn auch mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union. Zwar will Athen das Geld auch dazu nutzen, Flüchtlinge wieder zurück in die Türkei zu bringen, von wo viele nach Europa übersetzen. Das aber funktioniert derzeit nicht, obwohl Ankara genau dies bereits der EU zusicherte. Mehr noch: Es ist völlig offen, wie sich die Türkei verhält, wenn die vier Nato-Schiffe, unter ihnen auch die türkische Fregatte „TCS Barbaros“, voller Flüchtlinge die Häfen des Landes anlaufen, um die Menschen dort wieder an Land zu bringen.
So sind denn alle Augen auf den Gipfel der Europäischen Union mit der Türkei gerichtet. Hier soll eine grundsätzliche Einigung mit Ankara erzielt werden, damit sich die Zahl der Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze deutlich reduziert.
Doch die EU kann von der Türkei nicht fordern, sie muss bitten. Darüber hinaus ist es schwer abzuschätzen, welche Zugeständnisse Ankara der EU abverlangen wird. Dennoch setzt Angela Merkel alle Hoffnungen in dieses Treffen. Es soll jedoch kein Schicksalsgipfel für die Europäische Union werden. So setzt sie auf den Glauben, der Berge versetzt, wie sie am vergangenen Sonntag in der ARD-Talkshow Anne Will sagte. Auf die Frage, was denn passieren müsse, damit sie einsehe, dass es mit der europäischen Lösung nicht funktioniere, antwortete die Bundeskanzlerin: „Ich sehe nicht, was das hervorrufen könnte, weil alles gut durchdacht ist und auch logisch.“ Doch: „Leider glauben so viele nicht daran.“
Merkel gibt sich als die unerschütterliche Europäerin, die für die Einheit und den Zusammenhalt der Union kämpft, die eine europäische Lösung für die Flüchtlingskrise sucht, indem sie fordert, dass 160 000 Menschen von anderen Mitgliedsstaaten aufgenommen werden, während 840 000 in Deutschland bleiben sollen. Einen Plan B, sagt sie, habe sie nicht, was nicht heißt: Braucht es nicht. Wenn auch Angela Merkel sagt, Deutschland werde keine einseitigen Grenzschließungen vornehmen, ist das Wort an sich ausgesprochen und auf die Agenda gesetzt. Denn wenn auch Syrien befriedet werden mag, zeichnet sich an den Küsten Libyens das nächste Flüchtlingsdrama ab.