Der EU-Gipfel, der gestern und heute in Brüssel stattfindet, ist einer der wichtigsten der letzten Jahrzehnte. Wegen der Flüchtlingskrise und der sie begleitenden Unwilligkeit und Unfähigkeit der Europäer, sie zu lösen, steht die Existenz der gesamten EU auf dem Spiel. Diese Einsicht ist so ungefähr das Einzige, worüber sich die führenden Politiker Europas einig sind.
Das zweite wichtige Thema sind die Sonderbedingungen, die die Briten für sich herausschlagen wollen, um dann – vielleicht – doch noch in der EU zu bleiben. Dass die Briten eine Sonderrolle spielen wollen, begreifen sie gleichsam als Teil ihrer Natur. Wie arrogant das daherkommen kann, zeigt ein kleines Zitat. Robin Niblett, Direktor des außenpolitischen Think-Tanks Chatham House und nach eigener Aussage Proeuropäer „nach britischen Maßstäben“, sagte letzten Montag im Interview mit Le Monde: „Die Briten schauen auf die Welt aus der Position einer Insel, die nicht über ihre Souveränität verhandelt. Wir lieben es nicht, wenn uns Brüssel etwas vorschreibt. Wir wollen auch nicht, dass eine andere Macht Europa dominiert. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht zum Gleichgewicht in Europa beizutragen, aber wir wollen nicht, dass Europa über unser Gleichgewicht bestimmt.“
Es ist nicht verwerflich an sich, dass Großbritannien seine Interessen in der EU durchsetzen will. Irland und Dänemark haben ebenfalls für sich Sonderrollen beim Euro sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit durchgesetzt. Die Frage ist allein, wie weit die Zugeständnisse gehen dürfen und ob sie geeignet sind, den Zusammenhalt der EU weiter zu untergraben. Wer sich das Hauen und Stechen in der Flüchtlingsfrage anschaut, ist geneigt zu sagen, dass nicht mehr viel Zusammenhalt übrig ist, den man noch untergraben könnte. Ein zu starkes Nachgeben gegenüber den britischen Wünschen könnte die aktuellen Zentrifugalkräfte dennoch so weit verstärken, dass der ganze Laden nicht nur vielleicht, sondern wahrscheinlich auseinanderfliegt.
Was also wurde den Briten angeboten? Nicht allzu viel. David Cameron wollte eine wettbewerbsfähigere EU, eine europäische Wirtschaftspolitik, die die Nicht-Euroländer nicht gegenüber den Euroländern benachteiligt, mehr Souveränität für Großbritannien und keine oder weniger soziale Unterstützung für EU-Binnenwanderer, die vor allem aus Osteuropa legal nach Großbritannien kommen. Den britischen Wählern ist das Einwanderungsthema mit Abstand am wichtigsten.
Das von Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates, mit den Briten ausgehandelte und am 2. Februar vorgelegte Papier unterstreicht, dass die EU selbstverständlich ihre Wettbewerbsfähigkeit ausbauen, Gesetze vereinfachen und Bürokratie abbauen will. Wer da großartige Ergebnisse erwartet, glaubt auch noch an den Weihnachtsmann. In der europäischen Wirtschaftspolitik haben natürlich Euro- und Nicht-Euroländer großen Respekt voreinander. Aber genauso dürfe und werde kein Land eine weitere Integration der Euroländer mit einem Veto verhindern können.
Den Schein von mehr Souveränität soll es dadurch geben, dass eine noch zu bestimmende Anzahl von nationalen Parlamenten gemeinsam eine europäische Gesetzgebung vorläufig verhindern kann. Von zehn oder zwölf Parlamenten ist die Rede. Im Regelfall müssten diese Parlamente gegen ihre eigenen Regierungen stimmen, die ja als Ministerrat die halbe Gesetzgebung verantworten. Wer daran glaubt, glaubt auch… richtig!
Bleibt also noch die Kürzung der Sozialausgaben für wandernde EU-Bürger. Diese Ausgaben sind vielen Mitgliedstaaten ebenso ein Dorn im Auge wie den Briten. David Cameron kann also auf Verständnis hoffen. Dagegen spricht, dass die Osteuropäer, allen voran die Polen, in England nicht als Bürger zweiter Klasse gelten wollen. Hinzu kommt, dass alle Statistiken sagen, dass sie mehr in die Sozialsysteme einzahlen, als sie aus ihnen erhalten. Aber Unsinn hat noch keinen Politiker daran gehindert, ihn in Gesetze zu gießen. Dieses Mal soll eine zu bestimmende Mehrheit von Mitgliedstaaten entscheiden können, dass soziale Leistungen für EU-Zuwanderer zeitlich begrenzt ausgesetzt oder gekürzt werden können. Wahrscheinlich wird man sich darauf einigen, das einmal kurz vor oder nach dem britischen Referendum über den Verbleib in der EU zu machen. Das EU-Parlament muss den Gesetzesänderungen zustimmen. Es brüllt allerdings lieber laut, als dass es konsequent handelt.
Was bleibt, ist ein britischer Premierminister, der die EU-Mitgliedschaft seines Landes leichtsinnig auf’s Spiel gesetzt hat. Ein großer Teil der Wirtschaft ist gegen den Brexit, wie eine brandneue Umfrage der Bertelsmann-Stiftung gezeigt hat. Die Bevölkerung ist gespalten und wird womöglich die Angst zum Entscheidungsfaktor ihrer Wahl machen. Niemand kann die Auswirkungen eines „Brexit“ seriös vorhersagen, große Kollateralschäden sind denkbar, egal wie das Referendum ausgeht. David Cameron spielt ein gefährliches Roulette.