Parkour ist eine in den französischen Banlieues entstandene und entwickelte Kunstsportart, bei der sich der Teilnehmer mit den Fertigkeiten des eigenen Körpers auf möglichst sparsame Weise um die natürlich vorgegebene urbane Betonlandschaft einer Großstadt zu winden versucht. Der letzte Vorhang von Maria Goos ist dramaturgisches Parkour vom Feinsten. Aus dem Stand und in Windeseile bewegen sich die Darsteller kon-trolliert und dezent durch die unterschiedlichen zeitlichen wie psychischen Wahrnehmungsebenen der Erzählstruktur. Der Zuschauer wird dabei nur zu leicht um den Finger gewickelt, einmal vorausgesetzt, er kennt die Handlung nicht.
Er, ein genervter Ehegatte, sie eine in Putzlumpen und kornglasdicker Brille dahinjammernde Zweifachmutter, die auf den wohl klingenden Namen Jojanneke hört. Nach wenigen Minuten wechselt das Licht der herumstehenden Scheinwerfer dezent in andere Zwischentöne. Er, Schauspieler, regt sich über sie, letzte Wahl als Ersatz, auf. Ihre Rolle sei nicht die einer Mutter, sie sei schier zu blöd, die Strichfassung zu raffen. „Nicht weinen, meine Kleinen, Papi ist schon unterwegs mit der Flasche!“ – Von Kindern sei nicht die Rede, nein, mit den „Kleinen“ seien die Eiswürfel im abermals geleerten Bourbon-Glas ihres Alias gemeint. Flugs ändert sich das Licht, Guntbert Warns nimmt eine spöttische Haltung ein, Suzanne von Borsody zieht sich ihr Haarband lasziv zur schwungvollen blonden Welle ab, legt die Brille beiseite und wechselt gestisch vom weinerlichen Mütterchen zur stilbewussten Grande Dame samt kraftvoller Stimme.
In Maria Goos Drama Der letzte Vorhang begegnen sich zwei Liebende von einst. Damals auf der Schauspielschule, geteiltes Leid in Examenszeiten, dazwischen das Stehlen der Pferde, das Stehlen unzähliger Pferde. Es galt das Leben in vollen Zügen zu genießen. 30 Jahre haben sich die Wege seither getrennt. Sie hat mittlerweile einen scheinbar steinreichen Gynäkologen und Kunstsammler geheiratet und führt ein Luxusleben in Südfrankreich mit diesem Gatten, der glaubt, „eine Schauspielerin [sei] eine Hure mit gutem Gedächtnis“. Nun soll sie ihrem Jugendfreund Richard noch dieses eine, letzte Mal aushelfen, eine vakante Rolle zu übernehmen. Denn er giert nach der Premiere. Sie muss stattfinden, sonst bleibt ihm nur noch die Flasche Bourbon, Whiskey oder was sonst greifbar ist. In dem von Rainer Kersten aus dem Niederländischen übertragenen Drama liefern sich beide Figuren einen intelligenten, wortgewandten, ungemein temporeichen Schlagabtausch über die ganz großen Begriffe: Liebe, verkorkste Biografien, Mut zum Lebensbruch, Sinn und Wahnsinn rund ums Theater.
Diese Gedankenketten drohen nicht selten in peinliches Pathos abzugleiten, tun es aber nicht. Dieses Glück ist unterschiedlichen Umständen geschuldet:
Zum einen sind die Dialoge in besonders moderne Sprache gekleidet, verstaubte literarische Bonmots werden spöttelnd abgewunken: „Hemingway hat einmal gesagt ... – Nein, jetzt nicht Hemingway. Nicht immer mit Hemingway kommen, wenn wir endlich mal ein gutes Gespräch führen. – Hemingway ... – ... ist schon seit zig Jahren tot. Du wirst dir selbst etwas einfallen lassen müssen.“ Das Vokabular ist wohl durchdacht.
Auch sorgen die unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen zwischen Interpretationen und Figurenwechseln durch die beiden Darsteller und der dramaturgische Spannungsbogen für eine sehr plastische Handlung, in deren Gefüge sich der Zuschauer zudem immer neu orientieren muss. Gerade am Ende fällt das gesamte Klischeegebäude (etwa das vom heuchelnden, neureichen „Mösenbeschauer“, der seine Frau Lies nicht nur wegen ihres Aussehens, sondern aufrichtig liebt), und das Publikum muss neu bewerten, ohne dass eine geschwollene Sprache die vierte Wand hochzieht. Borsody und Warns keifen, poltern, sinnieren, reflektieren und lallen über die großen Worte des Lebens, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Und Lies muss – fernab der Schnulze – wählen zwischen zwei Männern, einem leidenschaftlichen, aber entgleisten Schauspieler und einem nur scheinbar oberflächlichen Gynäkologen auf der anderen Seite.
Diese Vielschichtigkeit lebt somit auch von glänzenden Darstellern. Gerade dann, wenn die Figur gewechselt oder vom gemimten Schauspiel aufs tatsächliche Leben umgeschlatet wird, machen die fein getauschten Haltungen der beiden Akteure diesen Theaterabend im Marnacher Cube 521 zu einem herausragenden Theatererlebnis. Borsody mal lasziv, mal besoffen, mal dominant, dann verloren, Warns mal aggressiv, divenhaft arrogant oder an die Flasche verloren: Das Duo beweist ganz große schauspielerische Klasse in dieser Produktion des Berliner Renaissance-Theaters.
Um die Schleimmaschine, die das Ensemble auf der Bühne so konsequent vermeidet, auch auf diesem Papier nicht zu strapazieren, sei aus den verfassten Beobachtungen kurz und knapp gefolgert: Der letzte Vorhang ist ganz großes Theater.