Schiffe gehen unter. Hunderte Flüchtlinge ertrinken. Die Schiffe dürfen nirgendwo anlegen. Ganze Städte werden zu Transithäfen, Tausende Menschen in Not quellen aus Zügen, wissen nicht wohin, warten auf Papiere, werden von den Einheimischen angerempelt, sie müssten weiter, nie stehen bleiben, nie ankommen. Die Geschichte, die Transit beschreibt spielt nicht in Idomeni oder Lesbos im Winter 2016, sondern in Marseille im Sommer 1940. Die Deutschen sind eben in Paris einmarschiert, die Franzosen, die es sich leisten können und die Oppositionellen aller Herren Länder, die sich retten wollen, ziehen in den freien Süden Frankreichs mit dem Ziel, ein Visa zu ergattern und ein Schiff zu finden, das sie wegfährt. Weit weg, am Besten nach Amerika, Nord oder Süd, egal.
„Die Montreal soll untergegangen sein“ erzählt er, ein junger Deutscher dessen richtiger Name nie genannt wird, 27, einem Arbeitslager in Rouen entkommen, der als Einziges im Leben noch fürchtet, seine Freiheit zu verlieren. Er erreicht Marseille, ist überwältigt von der Stadt, den Menschenmengen und der Schönheit des Meeres am Fuße der Cannebière. Nun beginnt für ihn, wie für so viele Flüchtlinge, ein Spießrutenlauf von Amt zu Amt, Konsulate, moralische Bürgschaften, gute Papiere, Visen, Transitpapiere, Bescheinigungen, Hierarchien, Wiederkommen, Warten... Man denkt an die Hotspots der europäischen Union, an die vielen bürokratischen Hürden, die Europa sich 60 Jahre später einfallen lässt, um die Einwanderung syrischer Flüchtlinge zu bremsen.
Am Montag spielte das Deutsche Theater Berlin ein Gastspiel von Transit im Studio des Grand Théâtre auf Limpertsberg. Der junge Regisseur Alexander Riemenschneider hat Anna Sehgers’ Roman von 1942, den sie im Exil mit autobiografischen Elementen ihrer eigenen Flucht schrieb (die unter anderem über Marseille führte), auf einen Theaterabend reduziert, in dem uns drei Schauspieler auf der Bühne die ständige Wiederholung der Geschichte, die Ausweglosigkeit der Menschheit veranschaulichen. Thorsten Hierse sitzt auf einem Stuhl, graue Hose, weißes T-Shirt – sitzt da und redet das Publikum direkt an. Er will seine Geschichte erzählen, wie sie immer vertrackter wird, mit toten Schriftstellern, immer neuen Identitäten, und einer Frau, Marie, die plötzlich da ist und in die er sich Hals über Kopf verliebt. Hinter ihm sitzt Tobias Verthake, wunderbar unterkühlt, und macht Musik mir Koffern, allerlei Perkussionselementen, einer Gitarre, seiner Stimme und einer Loopmaschine. Manchmal läuft eine junge Frau über die Bühne (Wiebke Mollenhauer), ruft „noch immer nichts!“ und verschwindet wieder. Mehr braucht es nicht, um fast zwei Stunden lang gefesselt zu sein, im Bann des Erzählers, der mit Duktus, Rhythmus und Sprache fasziniert.
Szenen-, Stimmungs-, Zeit- und Bühnenwechsel am Dienstag. Auf der Hinterbühne steht ein türkisfarbener Guckkasten, dessen Farbe abblättert. In einer Ecke sitzt ein dicklicher Mann mit einer Gitarre und singt eine Ballade. Zwei Paare, jeweils Junge und Mädchen, hocken nebeneinander auf aufgetürmten Matratzen, machen alles parallel. Sie sind die doppelten Lottchen, die Zwillinge Maria und Jesus Maria aus Dea Lohers Gaunerstück, dessen Uraufführung im Januar 2015 in Berlin stattfand. Ein spanischer Vater verlässt die deutsche Mutter ,als die Kinder noch klein sind. Sie kommt nie darüber hinweg. „Die Liebe tut mir fehlen“, schreit sie. „Das mit den Zwillingen, das ist mir zuviel!“. Eines Tages können die Kinder auch nicht mehr zusehen, wie ihre Mutter im Alkohol untergeht, wie sie in ihrer Wohnung verlottert, und auch sie verlassen sie, getrieben vom Traum einer wunderbaren Zukunft. Es sind Träume von Bankraub, Porsche, Geldverschwendung, die sie durchhalten lassen, mit ihren Gelegenheitsjobs, in ihrer schäbigen Wohnung, zwischen Porno-Otto, dem italienischen Pornofilmregisseur, und Madame Bonafiede, der Wahrsagerin mit der beeindruckenden Frisur. Ihnen wird nur noch ein Wunder helfen können – Herr Wunder, der Juwelier.
Dea Loher hat mit ihrem Gaunerstück eine wunderschöne Milieubeschreibung des neuen Prekariats und seiner Hoffnungslosigkeit geschrieben, mit einer Verdopplung der Hauptfiguren, als habe jeder sein Alter Ego immer dabei. Ein Stück, das die niederländische Regisseurin Alize Zandwijk poetisch überhöht, mit Choreographien aus Street-Dance und Pina-Bausch-Zitaten, Beppe Costa als wunderbar schrägem Porno-Otto mit Gitarre und Mikrofon, Elias Arens als schlaksige Madame Bonafide und besonders Fania Sorel und Hans Löw als verzweifelt verträumte Zwillinge.