Eine Geschichte politischer Verführung und Desillusionierung bricht über die Hauptfigur, den „Soldaten“, herein. Ödön von Horváths Romanvorlage Ein Kind unserer Zeit hat Regisseurin Carole Lorang nach einer Bühnenbearbeitung von Mani Muller inszeniert. Das im Jahre 1938 posthum veröffentlichte Prosawerk des österreichischen Dichters befasst sich mit der psychischen wie physischen Dekonstruktion eines völlig orientierungslosen jungen Mannes, der im Leerlauf seiner Jugend, aus allen Grundfesten gerissen, seine Erfüllung im Militärdienst zu finden sucht und in dieser Entwicklung in nahezu ekstatische Gemütszustände gerät:
„Ich bin Soldat. Und ich bin gerne Soldat. Wenn morgens der Reif auf den Wiesen liegt oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, wenn das Korn wogt und die Sense blitzt, ob’s regnet, schneit, ob die Sonne lacht, Tag und Nacht, immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen.“
Horváths Portrait beginnt jedoch dort, wo der Gipfel dieser Euphorie erreicht und ein Militäreinsatz das Weltbild des Soldaten von Heldengrab und Führerkult jämmerlich bröckeln lässt: Beim Versuch, seinen lebensmüden Hauptmann in einem von jeder moralischen Legitimation freien Einsatz zu beschützen, wird dessen Arm angeschossen und bis zu seinem Tod nicht mehr heilen können. Dass der Hauptmann den Tod geradezu suchte und keinerlei Befehlstreue bewies, sondern an den unmoralischen Kriegswirren zugrunde ging – das und viele andere Beobachtungen veranlassen die Hauptfigur, an den bisherigen Idealen zu zweifeln. Seiner einstigen Überzeugung: „Unsere Führungsspitze wird’s schon richtig treffen!“ und der Behauptung, der Hauptmann sei „ordnungsgemäß gefallen“, begegnet der Soldat zunehmend mit Argwohn: „Es darf nicht sein, dass der einzelne keine Rolle spielt.“ Im zivilen Leben findet er jedoch keinen Halt mehr und stirbt, auf einer Bank sitzend, sich dem Frosttod hingebend, das Thema der Weltkälte symbolisierend: „Das Bewusstsein einer großen Kälte ist die letzte Erinnerung, das erste Gefühl, das der Erfrierende aus dem Jenseits empfängt“ (Kindler Literaturlexikon, Bd. 8, 1988). Zivile Karriere oder einsamer Kältetod: „Das kann kein lieber Gott sein, denn die Verteilung ist zu gemein.“
Die bei Horváth bereits tief surreale Prägung findet ihren Niederschlag auch in Lorangs Regiearbeit. Zum einen bietet die Bühne eine sehr simple, aber effektive Aufteilung: Zeitlich oder geografisch versetztes Geschehen wird hinter einem durchsichtigen Vorhang dargeboten; leises, sanftes Trompetenspiel untermalt die Handlung seltener mit Musik denn vielmehr mit einer atmosphärisch verdichteten Geräuschkulisse. Das Haus der inhaftierten Mutter, eine Rummelplatz und eine Kneipe werden lediglich mit einigen Kartonstapeln und Spielzeugrequisiten in unterschiedliche Wahrnehmungsräume unterteilt. Mit ihnen erinnert zudem der vom Engel (Leila Schaus) am Boden gezogene Kreidekreis (vielleicht als Ort der Erkenntnis?) an die Bühnengestaltung des Filmes Dogville von Lars von Trier aus dem Jahre 2003. Auch die Art, wie der Engel den Soldaten (Nickel Bösenberg) gegen Ende des Stücks mit Kunstschnee berieselt, trägt zur Verdichtung der Inszenierung bei.
Carole Lorang hat mit Leila Schaus, Nickel Bösenberg und Franz Leander Klee auf ein differenzierendes Darsteller-Ensemble zurückgegriffen, das insbesondere dafür sorgt, die stellenweise grotesken Momente nicht in Komik oder gar Schwank abgleiten zu lassen. Immer haftet der sich selbst entlarvenden Sprache auch etwas Wehmütiges an. Bösenberg meistert die Monologe, in denen seine Figur kathartisch erschüttert wird, rhetorisch klar und meist ohne überschwängliches Pathos. Leila Schaus als Engel, Mädchen und Mitbewohnerin findet sich in recht schnell in ihre Rollen ein. Dem von Weltschmerz gezeichneten Engel verleiht sie besondere Komik (humpelnd, selbstzerstörerisch), ohne dabei dem ernsthaften Grundton des Kontexts einen Kratzer zu verpassen. Köstlich ihre spöttelnde Körperhaltung, wenn sie das Handeln Gottes beschreibt: „Gott weiß alles, hört alles und lässt keinen einzigen aus den Augen, Tag und Nacht, denn er hat mit jedem etwas vor.“ Klee übernimmt ebenso wie Schaus mehrere Figuren. Ihm wird aber nur selten Gelegenheit geboten, diesen männlichen Nebenrollen ein psychologisches Profil zu verleihen. Was jedoch Horváths literarischer Vorlage, nicht etwa Klees mangelnder Fertigkeit geschuldet ist.
Im Rückblick liefert Lorang dem Publikum eine im guten Sinne zurückhaltende, in ihrer Surrealität erfindungsreiche und atmosphärisch verdichtete Bühnenversion von Horváths Prosavorlage, die in ihrem Versuch, perspektivlose Männerbiografien im ideologisierten Dienst des Militarismus zu analysieren, von besonderer Aktualität ist.