Seit Jahrzehnten scheitern alle Versuche, eine neue Nationalbibliothek zu bauen. Nun beginnt der nächste

Vom Boulevard Roosevelt zur Avenue Kennedy

d'Lëtzebuerger Land du 11.01.2013

Am Silvestertag vor zwei Wochen, als die letzten Einkäufer sich noch schnell mit Crémant und Räucherlachs eindeckten, schrieb Nachhaltigkeits- und Infrastrukturminister Claude Wiseler (CSV) ein weiteres Kapitel in dem jahrzehntelangen und millionenteueren Trauerspiel um den Bau einer neuen Nationalbibliothek. Er hinterlegte den Gesetzentwurf 6516, mit dem das Parlament der Regierung erlauben soll, für 112,2 Millionen Euro am Bricherhaff auf dem Kirchberg ein neues Bibliotheksgebäude errichten zu lassen.
Die neue Nationalbibliothek soll die wenig geeigneten Einrichtungen im viel zu engen Ale Kolléisch im Schatten der Kathedrale ersetzen. Mehr noch: Sie soll laut Gesetzentwurf eine „Wohlfühlbibliothek“ werden, wo das Lesen wohl keine geringere Wohltat als der Besuch im Wellness-Bad werden soll. Ein großer Teil der Bücher soll für die Leser frei zugänglich in den Regalen stehen, so dass das umständliche und zeitraubende Bestellen oft entfällt. Außerdem soll die Bibliothek längere Öffnungszeiten erhalten und über eine Cafeteria verfügen.
Das neue Gebäude soll an der Avenue J.F. Kennedy, neben der Deutschen Bank liegen und vor dem markant überdachten Eingang eine eigene Haltestelle der geplanten Straßenbahn bekommen. Es soll fünf Stockwerke hoch und zwei Stockwerke tief werden. Die Funktionen sollen vertikal gegliedert werden: Lesesäle befinden sich im Erdgeschoss und in drei weiteren Stockwerken. Auch die Magazine erstrecken sich über fünf Niveaus und belegen Teile des ersten und zweiten Untergeschosses, des Erdgeschosses sowie des ersten und zweiten Stockwerks.
Entscheiden sich das Parlament und der Staatsrat rasch, sollen die Bauarbeiten bereits nächstes Jahr beginnen und drei Jahre dauern. So dass frühestens 2017 mit dem Umzug vom Boulevard Roosevelt an die Avenue J.F. Kennedy zu rechnen ist. Und dass keine Zeit zu verlieren ist, davon weiß auch Rolf Fuhlrott ein Lied zu singen.
Der Karlsruher Rolf Fuhlrott arbeitete ein Leben lang als Bauingenieur und Bibliothekar, eine eher seltene Kompetenzmischung, die dazu führte, dass er sich zunehmend auf die Planung von Bibliotheksbauten spezialisierte. Bald werden es 20 Jahre, dass er im Auftrag des Kulturministeriums ein Gutachten über die Nationalbibliothek und ihre Buchbestände verfasste, in dem es hieß: „Der Zerstörungsprozess des wichtigsten Kulturgutes unter diesen Aufbewahrungsbedingungen ist unaufhaltsam, wenn nicht bald Abhilfe geschaffen wird.“
Nächstes Jahr wird Rolf Fuhlrott 80 Jahre alt, er ist längst im Ruhestand. Es wurde auch bereits in die Sicherung der Buchbestände investiert. Doch die Arbeiten an der von ihm dringend empfohlenen und seit Jahrzehnten geplanten neuen Na­tio­nalbibliothek haben noch immer nicht begonnen. Unterdessen mietet die Nationalbibliothek immer neue Lagerräume in der Stadt, um ihre teilweise auf Bananenkartons verteilte Bestände unterzubringen.
1998, als das Kulturministerium einen Gesetzentwurf durch die Kammer jagte, um für 970 Millionen Franken (24 Millionen Euro) die Nationalbibliothek zu spalten und eine Zweigstelle auf dem Kirchberg zu errichten, schlug der Echternacher LSAP-Abgeordnete Jos Scheuer als Berichterstatter Alarm: „Il y a besoin, il y a urgence!“
Seither sind 15 Jahre vergangen, Jos Scheuer wird im November 70 und auch er ist längst im Ruhestand, inzwischen sitzt bereits sein Sohn Ben im Parlament. Doch nicht einmal der vom Parlament mit 38 gegen 22 Stimmen beschlossene Bau der Zweigstelle hat begonnen. Sie sollte, neben dem am Boulevard Roosevelt verbleibenden Bestand, 2 373 462 Bücher aufnehmen und so laut Gesetzentwurf bis ins ferne Jahr 2122 ausreichend Stauraum bieten.
Anfang 2002 hatte die Regierung aber beschlossen, dass sich die Parlamentsmehrheit geirrt hatte. Nun erschien es plötzlich unsinnig, den Bestand und den Betrieb der im internationalen Vergleich doch recht kleinen Nationalbibliothek auf zwei Standorte zu verteilen. Das entsprechende Gesetz vom 20. Juli 1998 blieb bis heute in Kraft, es wurde jedoch nie ausgeführt.
Stattdessen beschloss die Regierung, das Kirchberger Schuman-Gebäude zwischen Philharmonie und Mudam in eine Bibliothek umbauen zu lassen. Ende 2003 konnte Kultur- und Bautenministerin Erna Hennicot-Schoepges (CSV) stolz den Gewinner des dazu ausgeschriebenen Architektenwettbewerbs vorstellen, die Firma Bolles-Wilson aus Münster. Der Bau, der dieser Tag bezugsfertig sein sollte, war ursprünglich auf 149 Millionen Euro veranschlagt, doch dann begannen die Staatsfinanzen knapper zu werden, und die Regierung bat die Architekten, eine Nummer kleiner zu bauen, um bei 100 Millionen zu bleiben. Das war dann auch noch zu viel und so wurde dieses Projekt ebenfalls auf Eis gelegt, die zuständige Ministerin 2004 ebenfalls. Die Gewinner des damaligen Architektenwettbewerbs bekamen nun zum Trost und ohne Wettbewerb den Auftrag für den Bau des neuen Bibliotheksgebäudes, zwei Kilometer weiter. Aber in dem 100-seitigen parlamentarischen Dokument zum Neubau bleiben die Architekten ungenannt.
Vorübergehend hatten das Hochschul- und Kulturministerium kurz einmal beschlossen, die Nationalbibliothek mit der geplanten Universitätsbibliothek in einer „Bibliothèque nationale et universitaire“ (Bnu) zu vereinen, die möglicherweise nicht mehr in der Hauptstadt, sondern auf dem Campus von Esch-Belval errichtet werden sollte. Doch auch die „Bnu“ verschwand wieder sang- und klanglos in einer Schublade. Im Februar 2011 brachte die Regierung einen Gesetzentwurf ein, um zum Preis von 59,5 Millionen Euro eine Maison du livre genannte Universitätsbibliothek für 500 000 Bände plus 150 000 Neueingänge binnen zehn Jahren in Belval zu bauen – binnen vier Monaten war das Gesetz schon gestimmt, die Bauarbeiten haben bereits begonnen.
Doch eine Bibliothek zu planen, ist derzeit nicht einfach. Denn Bibliotheksneubauten sollen nicht nur die bestehenden Bestände fassen, sondern sollen auch ausreichend Platz für die Neuzugänge der nächsten Jahre und Jahrzehnte vorsehen. Niemand kann aber mit Sicherheit vorhersehen, welchen Einfluss das Aufkommen digitaler Bücher in naher und ferner Zukunft auf die Veröffentlichung gedruckter Bücher haben wird. Nachdem sich die vor 30 Jahren kursierenden Prophezeiungen vom „papierlosen Büro“ als falsch erwiesen haben und in den meisten Ländern die Zahl der gedruckten Bücher weiter Jahr für Jahr steigt, gehen selbst unter Fachleuten die Meinungen auseinander.
Der geplante Neubau am Bricherhaff soll jedenfalls nicht bloß die derzeit vorhandenen 1 559 734 Bücher, Musik- und Filmaufnahmen sowie andere Dokumente beherbergen, sondern bis 2045 Raum für eine Verdoppelung auf insgesamt 3 275 905 Exemplare bereit halten. Die Bibliothek geht also lieber davon aus, dass auch in 30 Jahren noch viele Bücher gedruckt werden. Sollte die Produktion gedruckter Bücher durch die Verallgemeinerung elektronischer Bücher oder aus anderen Gründen weniger schnell zunehmen, behält die Bibliothek entsprechend länger Platz in den Regalen. Für den entgegengesetzten Fall bietet das Grundstück sogar freie Fläche für einen späteren Anbau.
Dass bis heute aber unverantwortlich viel Zeit und Geld für die Planung eins Bibliothekneubaus verloren gingen, hat nichts mit dem Aufkommen elektronischer Bücher zu tun. Allgemein scheinen Bücher als gedrucktes Kulturgut weder in der Gesellschaft, noch im Kulturministerium das gleiche Prestige wie klassische Musik, Kunst oder alte Burgen zu genießen. Sie spielen offenbar auch keine Rolle als kultureller Vorteil im Standortwettbewerb der Großregion.
Zudem verpasste die Nationalbibliothek das Zeitfenster, als der Staat genügend Überschüsse verbuchte, um seinen Nachholbedarf an prestigevolle Kulturbauten auszugleichen. Außerdem verzögerte sich die Räumung des Schuman-Gebäudes durch die Europäische Union, und zierte sich der Kirchbergfonds, dem Staat das nach einem gegenüberliegenden landwirtschaftlichen Gehöft benannte Baugelände am Bricherhaff abzutreten. Er hätte es lieber teurer an eine ausländische Bank verkauft.

Romain Hilgert
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