In den vergangenen Monaten überarbeiteten die Parteien der 2013 theatralisch gescheiterten Regierungskoalition, CSV und LSAP, ihre Grundsatzprogramme. Die CSV bemühte sich, den Anschluss an jene Wählermehrheit zu behalten, die sich nichts mehr aus den katholischen Moralvorstellungen macht. Deshalb musste die konservative Partei ihr Programm, das verspricht, dass alles beim Alten bleibt, an die sich verändernde Gesellschaft anpassen (d’Land, 5.2.2016). Bei der LSAP ist es umgekehrt: Ihr Programm stellt eine andere Gesellschaft in Aussicht, und deshalb muss die Linkspartei es immer wieder daran anpassen, dass alles beim Alten bleibt, dass die Gesellschaft sich selbst unter einer Regierungsbeteiligung der LSAP nicht so verändert, wie diese es versprochen hatte.
So änderte die LSAP nach ihrer Spaltung 1972 in Wormeldingen das Grundsatzprogramm, um den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1968 samt Wahldebakel Rechnung zu tragen und ohne linken Ballast eine Koalition mit den Liberalen vorbereiten zu können. Nach dem Ende des Kalten Kriegs, dem Durchmarsch des Neoliberalismus und zwei Legislaturperioden Verschleiß an der Seite der CSV samt Wahldebakel verabschiedete die LSAP 1992 in Echternach neue Grundsätze. Im Anschluss an die Terrorismushysterie von 9/11 und einem noch schlimmeren Wahldebakel samt Verlust der Regierungsbeteiligung erklärten die 2002 in Esch-Alzette gestimmten Grundsätze Sicherheit zum vierten sozialistischen Grundwert neben Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.
Ein Jahrzehnt später ist es wieder so weit: In einer Woche, am 20. März, soll ein Parteitag ein neues Vademekum unter dem Titel Sozial, fortschrittlich, gerecht und solidarisch! Ein sozialistischer Leitfaden verabschieden. Es soll die bestehenden Grundsätze modernisieren, ohne sie zu ersetzen, also eine neue Stellung in der Hierarchie der Programme einnehmen, die da vom idealistischen Grundsatzprogramm über konjunkturelle Wahlprogramme bis hin zu opportunistischen Koalitionsprogrammen reicht. Der neue sozialistische Leitfaden soll jetzt einen Bogen spannen zwischen dem langfristigen Grundsatzprogramm und den kurzfristigen Wahlprogrammen, zwischen sozialistischen Idealen und linksliberalem Alltagsgeschäft.
Ein solcher in Museen geschätzter Mini Guide soll verhindern, dass Mitglieder und Wähler in diesen unübersichtlichen Zeiten vollends die Orientierung verlieren. Denn im Siegesrausch von 2013 hatte eine Mehrheit der Partei zwar an die Wiederauferstehung der mythischen Mittelinkskoalition aus den Siebzigerjahren geglaubt. Aber nicht allen Parteimitgliedern war wohl bei der Vorstellung, dass ihr neuer starker Mann ein gutgelaunter Technokrat war, der sich lieber vor seinem Rolls Royce als auf volkstümlichen Grillfestesten fotografieren ließ und die Parteitradition als Arbeiterbewegungsromantik abtat. Die Ernüchterung setzte bald ein, als die Regierung einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu ihrem obersten Ziel erklärte und, genau wie ihre Vorgängerin, erst einmal ein neues Sparpaket mit Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen zusammenstellte. Dann wurden die Europawahlen zum Desaster, gar nicht zu reden vom Referendum und den vom Tageblatt alle sechs Monate veröffentlichten Meinungsumfragen über die Beliebtheit der Regierung.
Der neue Leitfaden erklärt nun solche Pannen damit, dass die Politik nicht falsch, sondern zu kompliziert ist: „In den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger hat sich die Politik zu weit von den Menschen und ihren Alltagssorgen entfernt. Oftmals haben sie das Gefühl, nicht ernstgenommen zu werden. Dies geht mit zunehmendem Vertrauensverlust und wachsender Politikverdrossenheit einher.“ Früher war eben alles einfacher, als „politische Entscheidungen vor Jahrzehnten noch verständlich und weitgehend nachvollziehbar schienen“ (S. 4).
Wohl deshalb behandelt der Leitfaden den Umweltschutz, der einst der LSAP ein Herzensanliegen war, eher stiefmütterlich und überlässt ihn den Grünen. Auch die Gleichstellung der Geschlechter spielt keine große Rolle, nachdem die Partei sich mit ihrer Quotendiskussion lächerlich gemacht hatte. Zur Bildungspolitik bleibt die ehemalige Partei der freigeistigen Lehrer zurückhaltend, und wenn sie sich Fortschrittspartei nennt, fällt ihr die Digitalisierung ein (S. 8).
Der Leitfaden soll aber auch eine politische Grundlage anbieten, auf der sich alle Tendenzen der Partei wiederfinden und versöhnen. Denn im Herbst 2014 hatten einige Zentrumsnotabeln der Fondation Robert Krieps ein „Positionspapier“ verfasst, das die LSAP zur linksliberale Modernisiererpartei machen sollte, ohne ein gutes Wort für die derzeitige Regierungsbeteiligung und den neuen Helden der Partei, Etienne Schneidet, übrig zu haben. Worauf sich im Sommer 2015 Gewerkschafter der Partei zu Wort meldeten und sich über die mangelnde Solidarität mit Griechenland, die Sparmaßnahmen der Regierung und die geplanten Freihandelsabkommen beschwerten. Inzwischen nennen sie sich Linkssozialisten.
Alle Tendenzen der Partei scheinen sich einig, dass es nur einen Weg für die Partei gibt, um sich von der Konkurrenz zu unterscheiden: „Die LSAP muss ihr soziales Profil schärfen“, heißt es im Leitfaden (S. 5). Sie soll „dafür sorgen, dass Einkommen und Vermögen sozialgerecht verteilt werden, dass Steuereinnahmen und Sozialbeiträge so ausgerichtet sind, dass sie auf einer solidarischen Finanzierung beruhen“ (S. 6). Und „mehr Verteilungsgerechtigkeit stärkt nicht zuletzt die Kaufkraft und ist in unseren Augen Voraussetzung für nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Neben der automatischen Indexierung der Löhne, Gehälter und Renten sind auch die periodische Anpassung von Steuertabelle, Familienleistungen und Sozialtransfers unerlässliche Mittel zur Stärkung von Kaufkraft und Binnenmarktnachfrage“ (S. 7).
Auf Wunsch der Linkssozialisten weist der Leitfaden feierlich die Rechtssozialisten zurück, die immer wieder den Parteinamen ändern wollen: „Die LSAP unterstützt Menschen, die durch ihre Arbeit und Kreativität leben. In diesem Sinne trägt die LSAP als Arbeiterpartei das A in ihrem Namen mit Stolz!“ Denn „Arbeit genießt aus Sicht der LSAP einen übergeordneten Stellenwert, deshalb muss der Produktivitätsgewinn und geschaffene Mehrwert gerechter zwischen Arbeit und Kapital verteilt werden“ (S. 8).
Mit Blick auf die den Linkssozialisten wichtige TTIP-Kampagnen heißt es: „Ganze Regionen werden auf Betreiben einer global ausgerichteten Weltwirtschaft, die nach Gewinnmaximierung und Kostenminimierung trachtet, zu Wirtschaftsblöcken und Machtzentren zusammengefügt, in denen die Interessen der Privatwirtschaft durch internationale Verträge so abgesichert werden, dass der Spielraum der nationalen politischen Akteure entscheidend begrenzt wird“ (S. 4). Auch eine in der LSAP lange tabuisierte Euroskepsis macht sich breit: „Ohne Sozialunion und ein Ende der neoliberalen Sparpolitik wird das Vertrauen in die EU weiter schwinden“ (S. 13).
Aber das Geheimnis der von der LSAP geförderten Luxemburger Variante des Sozialismus lüftet der Leitfaden nicht. Um ihm auf die Spur zu kommen, muss man zwischen den Zeilen lesen. Man erfährt, dass dieser zweite Luxemburgismus der Arbeiterbewegung mit sozialstaatlicher Umverteilung gleichzusetzen ist: „Für die LSAP ist der Sozialstaat wesentlich mehr als eine Reparaturwerkstatt für Hilfsbedürftige, deshalb lehnen die Sozialisten den ‚schlanken’ Staat kategorisch ab, der Bürgerinnen und Bürgern nur dann Unterstützung gewährt, wenn sie es allein aus eigener Kraft nicht mehr schaffen“ (S. 9).
Damit niemand richtig verliert, diese Umverteilung ohne größere gesellschaftlichen Konflikte durchzusetzen ist, bedarf es aber eines hohen Wirtschaftswachstums, das entsprechende Staatseinnahmen abwirft. Deshalb müsse das Land „gleichwohl im internationalen Kontext wettbewerbsfähig bleiben, um seinen leistungsfähigen Sozialstaat langfristig absichern und für soziale Gerechtigkeit sorgen zu können“ (S. 12).
Zwar heißt es: „Neoliberale Wirtschaftspraktiken und Exzesse im Bankenwesen sind mit den Wertvorstellungen der LSAP unvereinbar“. Aber sie sind nun ein mal die wichtigste Quelle des hohen Wirtschaftswachstums, der hohen Staatseinnahmen und damit des hoch entwickelten Sozialstaats. Deshalb beklagt der Leitfaden vordergründig: „Neoliberale Denkmuster halten sich insbesondere im wirtschafts- und finanzpolitischen Bereich hartnäckig und wirken ähnlich wie in den 1990er Jahren auch heute noch teilweise bis in die Sozialdemokratie hinein (S. 11).“ Aber hintergründig sind diese neoliberalen Denkmuster das rechtssozialistische Erfolgsrezept des Luxemburger Sozialstaatssozialismus. Etienne Schneider hat das unbekümmert verinnerlicht, die Linkssozialisten verklemmter.