Als am 12. Dezember der Vorstand der Gesundheitskasse CNS, die auch die Finanzen der Pflegeversicherung verwaltet, das Budget 2013 für die Pflegekasse verabschiedete, teilte die CNS anschließend mit, ein Defizit von 6,1 Millionen Euro sei darin schon eingeplant.
Was dem CNS-Vorstand ebenfalls vorlag, worüber er jedoch nichts öffentlich verlauten ließ, war eine finanzielle Vorausschau für die nächsten drei Jahre. Ihr zufolge könnte die Pflegekasse bis Ende 2015 auch strukturell defizitär werden. Das heißt, ihre Ausgaben würden die Einnahmen dann so weit übersteigen, dass die Reserven der Kasse unter das gesetzliche Minimum fallen. Für Anfang 2016 müssten dann entweder die Beiträge erhöht oder neue Finanzierungsquellen erschlossen werden. Oder aber, die Leistungen werden gekürzt, beziehungsweise ein Mix aus diesen drei Maßnahmen ergriffen.
All das wäre nicht unbedingt ein Drama, weil das in der Sozialversicherung nun mal so geht. Defizite in der Pflegekasse gab es auch in der Vergangenheit schon. Als sie 2006 beinah pleite zu gehen drohte, wurde der Beitragssatz von vorher ein auf 1,4 Prozent angehoben. Mit einem Schlag stiegen die Reserven der Pflegekasse wieder auf über 170 Millionen Euro, und das obwohl die Regierung im selben Jahr den Staatsbeitrag an den Pflegeausgaben vorübergehend von vorher 40 Prozent auf maximal 140 Millionen Euro pro Jahr eingefroren hatte.
Und für dieses Jahr hat die Regierung sich ohnehin eine Reform der Pflegeversicherung vorgenommen. Sie soll, nach der Reform der Unfallversicherung und der Gesundheitsreform von 2010 und der Anfang Dezember letzten Jahres verabschiedeten Pensionsreform als das letzte große Umbauvorhaben an der Sozialversicherung bis zum Ende der Legislaturperiode, demnächst in Angriff genommen werden.
Aber dabei gibt es eine Besonderheit: Als jüngste Ergänzung der Sozialversicherung erblickte die Pflegeversicherung erst 1998 das Licht der Welt und trat Anfang 1999 in Kraft. Was ihre Einführung gebracht hat, wurde, abgesehen von einem ersten Bericht, über den die Abgeordnetenkammer im Mai 2001 diskutierte, erst jetzt von der Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) untersucht – dieser Bericht soll in den nächsten Wochen vorliegen.
„Gebracht haben“ ist jedoch, wenn es um die Pflegeversicherung und die Versorgung mit Langzeit-Pflegeleistungen geht, ein weites Feld. Langzeitpflege gab es auch vor der Einführung der Assurance dépendance schon. Geleistet wurde sie entweder in Krankenhäusern, wo Pflegefälle zum Teil während vielen Monaten Langzeitbetten belegten, oder in Pflegeheimen, die mit dem Gesundheitsministe-
rium verbunden waren, oder in der Zuhaus-Betreuung durch religiöse Organisationen, gefördert durch das Familienministerium. Gegenüber diesem System sollte die Pflegeversicherung eine Art Pflegemarkt für neue Akteure schaffen helfen, wodurch sich die Pflege professionalisieren sollte. Der neue Zweig der Sozialversicherung sollte aber auch die Staatskasse entlasten: Bis zur Einführung der Pflegeversicherung war insbesondere die Pflege in Heimen für den Staat kostspielig, denn er deckte nach dem Fehlbedarfsprinzip anstandslos jedes in den Häusern anfallende Defizit.
Deshalb ist es eine durchaus brisante und auch politisch bedeutsame Frage, ob nach 14 Jahren Pflegeversicherung von mehr Kosteneffizienz gesprochen werden kann. Bekannt ist, dass mit der Pflegeversicherung eine ganz neue Sozialdienstleistungsbranche heranwuchs, die nach jüngsten Angaben des Pflegedienstleister-Dachverbandes Copas mittlerweile rund 10 000 Beschäftigte zählt und damit mehr als Stahlindustrie und Eisenbahn zusammengenommen.
Dass sie weiter wachsen müsste, scheint auf der Hand zu liegen. Denn der Pflegebedarf wird sich schon aufgrund der demografischen Entwicklung weiter erhöhen. Um die 50 Prozent der Luxemburger Pflegebedürftigen sind 80 Jahre und älter. Der Anteil dieser Altersgruppe an der Bevölkerung soll sich, den demografischen Prognosen nach, in den nächsten vier Jahrzehnten nach und nach verdoppeln.
Ein weiterer Faktor ist der Zustand der öffentlichen Gesundheit: Zum Beispiel litten im Jahr 2006 mit 22,4 Prozent die meisten als pflegebedürftig Anerkannten an „Troubles mentaux et du comportement“. Darunter sind sämtliche Fälle von Altersdemenz, insbesondere der Alzheimerschen Krankheit, zusammengefasst. Bei den über 80-Jährigen lagen diese Leiden mit 25 Prozent erwartungsgemäß am höchsten. Leider jedoch deuten die momentan verfügbaren Gesundheitsdaten der erwachsenen Bevölkerung darauf hin, dass dieser Anteil wohl weiterhin hoch bleiben wird: Fast 40 Prozent der über 40-Jährigen leiden hierzulande an zu hohem Blutdruck, der aber nur bei einem Viertel dieser Personen auch behandelt wird, ergab im Frühjahr vergangenen Jahres eine Untersuchung durch das Centre de recherche public de la Santé. Internationale Studien aber haben gezeigt, dass ein unbehandelter Bluthochdruck schon in diesem Alter das Gehirn schädigt und bei 70-Jährigen, die seit 30 Jahren an einem unbehandelten Bluthochdruck leiden, jeder Zweite Anzeichen von Altersdemenz aufweist. Womöglich lauert da eine Zeitbombe, deren Auswirkungen auf den Bedarf an Langzeitpflege sich noch gar nicht abschätzen lassen.
Deshalb hatte der Pflegedienstleister-Verband Copas sicherlich Recht, als er Ende Oktober in einer groß angelegten Pressekonferenz die bevorstehende Pflegeversicherungsreform vorwegnahm und dort unter anderem dafür eintrat, die „Prävention“ zu verstärken. Der neue Copas-Präsident Marc Fischbach, der frühere Minister, Richter und Ombudsmann, erklärte noch, „Qualität“ in der Pflege dürfe „nicht verhandelbar sein“. Doch das führt wiederum an einen sehr wunden Punkt im Pflegesystem: Was dort an Qualität erbracht wird, weiß auch nach 14 Jahren noch niemand genau.
Denn während etwa in Deutschland, das sich 1994 als eines der weltweit ersten Länder eine Pflegeversicherung gab, nicht nur immer wieder eine Unterfinanzierung der Pflege festgestellt wurde, geben dort seit 2004 „Pflegeberichte“ Aufschluss über die Leistungen – mit immer wieder zum Teil haarsträubenden Ergebnissen. So eine Berichterstattung gibt es in Luxemburg noch nicht. Und das obwohl sich die jährlichen durchschnittlichen Kosten der Pflegeversicherung pro anerkannt Pflegebedürftigem zwischen den Jahren 2000 und 2010 um 89 Prozent erhöht haben: von 19 294 Euro auf 36 383 Euro. Wobei ein als pflegebedürftig Anerkannter im Schnitt nur 18,2 Monate in Pflege verbringt, ehe er stirbt. Ist der Aufwand für diese anderthalb Jahre noch zu klein oder zu hoch? Hätten die betreffenden Personen vielleicht länger leben können, wenn sie anders versorgt worden wären? Solche Fragen wird auch der zur Einleitung der Pflegeversicherungreform erwartete IGSS-Bericht nicht beantworten können.
Denn eine 2007 in Kraft getretene Änderung des Pflegegesetzes führte zwar eine Qualitätskommission ein, auf die später noch eine Normenkommission folgte. Doch was bisher noch nicht erarbeitet werden konnte, sind verbindliche Normen und Standards für die Langzeitpflege und Qualitäts-Kontrollmechanismen. Die Arbeiten daran haben begonnen. Einheitlichkeit zu finden, ist aber nicht zuletzt deshalb so schwer, weil sich vor allem in den stationären Pflegeeinrichtungn, den Cipa und den Pflegeheimen, mit den Jahren ganz unterschiedliche Ansätze und Kulturen und ganz verschiedene Personalschlüssel herausgebildet haben. So dass die beiden einzigen beiden Qualitätserhebungen, die bisher angefertigt wurden, je eine Zufriedenheitsstudie unter Zuhause Betreuten im Jahr 2007 und unter Heiminsassen im Jahr 2010 waren. Beide ergaben, die Versorgung sei im Grunde prima. Was fehlt, sind Daten über die Qualität der Schmerzbehandlung Pflegebedürftiger. Oder zur Frage, ob sie genug zu trinken erhalten, weil sonst die gleichzeitige Einnahme vieler Medikamente die Nieren schwer belastet. Oder zur Frage, ob bettlägerige Pflegebedürftige regelmäßig umgebettet werden, damit ihre Haut nicht durch „Durchliegen“ geschädigt wird, woraus sich lebensgefährliche Geschwüre bilden können.
An diesen Punkten für Abhilfe zu sorgen und überdies eine einheitliche Dokumentation der Pflege als „Prozess“ einzuführen, ist im der Pflegeversicherungsreform gewidmeten Abschnitt im Regierungsabkommen ausdrücklich vorgesehen. Doch wie die Dinge heute liegen, müsste vielleicht noch dringender die Finanzierung abgesichert werden: Bis 2015 hat die Pflegekasse nur dann Ruhe, wenn bis dahin wirtschaftlich im Lande alles gut geht und die Lohnmasse stark genug wächst. Sicher ist das nicht.
Doch wenn die Reform eigentlich erst die Grundlagen dafür schaffen soll, dass klar werden kann, was das System tut, besteht durchaus das Risiko, dass über die Finanzierung der Pflege und ihre Absicherung falsch entschieden wird. Ein hervorstechendes Merkmal der Pflegeversicherung ist auch, dass sie als öffentliche Rundum-Versicherung für alle konzipiert wurde. Im Unterschied zu Deutschland, an dessen 1994 eingeführtem Modell sich die damalige Luxemburger Regierung lange orientierte, wurde schließlich keine Teilkasko-Pflegeversicherung mit einem obligatorischen Eigenanteil eingeführt, und Luxemburg erhielt kein Pflegestufen-Modell, sondern nach kanadischem Vorbild eines, das jedem anerkannt Pflegebedürftigen einen individuellen Leistungsplan zuweist. Das kann man ohne weiteres als eine soziale Errungenschaft ansehen.
Ines Kurschat
Catégories: Assurance dépendance, Politique sociale
Édition: 20.01.2012