Der Kampf um die Köpfe ist längst im Gange. „Wir brauchen qualifizierte Pflegekräfte in allen Bereichen“, betont Evandro Cimetta, Koordinator der Confédération des organisme prestataires d’aides et de soins (Copas). Sein Verbund vertritt die Interessen und Anliegen der Dachverbände von Pflegeunternehmen mit insgesamt rund 9 500 Beschäftigten.
Aber nicht nur in zähen Kollektiverhandlungen um die Löhne des Pflegepersonals tritt die Copas in Aktion, auch bei anderen Themenfelder will das Bündnis Flagge zeigen. Dafür hat sich die Copas umstrukturiert: Neuerdings gibt es neben der neu mit der ehemaligen RTL-Journalistin Monique Putz geschaffenen Abteilung Kommunikation einen Bereich Ausbildung. „Wir wollen zunächst den diesbezüglichen Bedarf im Sektor ermitteln und dann entsprechende Empfehlungen an die Bildungsträger geben“, so Cimetta.
Das ist keinen Moment zu früh. In Zeiten, in denen die Arbeitslosigkeit steigt und auch Luxemburg nicht länger vor den Folgen der europaweiten Schuldenkrise und Stellenabbau gefeit ist, gibt es eine heimische Branche, die nach wie vor expandiert: der Sozialsektor. Allein der Alten- und Pflegesektor (ambulant und stationär zusammen) beschäftigt heute mehr Menschen als die Stahlindustrie und kann ohne Übertreibung als eines der Zugpferde der Luxemburger Wirtschaft genannt werden. Waren bei der Gründung der Pflegeversicherung 2000 noch 5 810, die von Pflege-Leistungen profitierten, sind es neun Jahre später schon über 11 100.
Den Beleg für den Boom liefert das Observatoire des compétences. Vor einem Jahr beim Institut universitaire international Luxembourg (IUIL) ins Leben gerufen, um Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu analysieren und den Fortbildungsbedarf zu ermitteln, ist das im Schloss Munsbach untergebrachte Institut auf die Erstellung von Fortbildungen und Kompetenzprofilen spezialisiert. Hinter seinen dicken Mauern tragen Mitarbeiter Daten zusamen und werten sie aus. Geschäftsgrundlage ist u.a. ein Abkommen mit dem Arbeitsministerium: Es sieht vor, dass das Institut berufliche Kompetenzen für den privaten wie auch den öffentlichen Sektor entwickeln hilft (in Zusammenarbeit mit Kammern und Verbänden), die dem Wirtschaftsstandort Luxemburg im Wettbewerb um Fachkräfte dienen sollen. Dafür erhält das Institut einen staatlichen Zuschuss von 850 000 Euro plus projektgebundene Finanzmittel: rund zwei Millionen Euro. Arbeitsschwerpunkte sind neben Weiterbildungen und individuellen Kompetenzmessungen auch Branchenanalysen.
Die spricht in Sachen Sozialsektor eine deutliche Sprache: Kaum eine andere Branche boomt in diesen Zeiten so sehr wie der Alten-, Pflege-, und Behindertenbereich – und ein Ende dieses Trends ist nicht abzusehen. Auf rund 25 000 Personen, also rund 7,7 Prozent der Arbeitskräfte im Großherzogtum, schätzt Wissenschaftler Dominique Pierret den Sektor. Die Angestellten eines weiteren boomenden Teilbereichs sind dabei nicht mit eingerechnet: die der Kinderbetreuung. „Wir werden uns auch hier auf einen wachsenden Arbeitsmarkt einstellen müssen“, so Georges Rotink, Koordinator bei der katholischen Konförderation Caritas auf Land-Nachfrage.
Die Europäische Kommission verlangt von den EU-Mitgliedstaaten, die Rate der Vierjährigen, die eine Bildungseinrichtung besuchen, von derzeit 87 Prozent bis 2020 auf 90 Prozent zu steigern. In Luxemburg sind derzeit ... bisher abgedeckt. Wie Pilze sprießen inzwischen private Betreuungseinrichtungen aus dem Boden, die ihrerseits die Nachfrage nach gut ausgebildetem pädagogischem Fachpersonal weiter anheizen. Ein Blick in die Stellenanzeigen der großen Luxemburger Tageszeitungen belegt den Mangel.
Im Altenpflegebereich sorgte die Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1999 für einen sprunghaften Anstieg der mobilen Pflegedienste. Die Alterung der Gesellschaft, die auch in Luxemburg, trotz im EU-Vergleich höherer Geburtenraten, fortschreitet, wird dafür sorgen, dass die Nachfrage nicht sinken wird (d‘Land 13.08.10).
Gute Aussichten also für angehende Pflegekräfte – und doch haben die Altenpflege-Dienstleister zunehmend Schwierigkeiten, das nötige Personal zu rekrutieren. „Die Großregion ist fast leer gefischt“, weiß Evandro Cimetta. Hinzu kommt, dass nicht jede Pflegefachkraft das geforderte Profil erfüllt. Demenzkrankheiten, steigende Ansprüche – vor allem in der Geriatrie ausgebildete Fachkräfte werden gesucht. Viele von ihnen pendeln mittlerweile über 80 Kilometer täglich nach Luxemburg. Für die luxemburgischen Patienten werden Luxemburgisch sprechende Pflegerinnen und Pfleger bevorzugt, damit die Pflegebedürftigen nicht im hohen Altern plötzlich in einer Sprache kommunizieren müssen, die ihnen nicht liegt. „Luxemburgisch ist ein Pluspunkt, aber wir müssen zugeben, dass wir zum Teil einfach nehmen müssen, wen wir kriegen“, so Cimetta. Welches Jobprofil am besten bei einer Pflegeeinrichtung passt, war bisher vor allem den Leistungsanbietern überlassen. Eine strukturierte Herangehensweise, wonach regelmäßig ermittelt würde, welche Fachkräfte und Spezialisierungen die Branche künftig braucht – die dann ausgewählte Bildungsträger gezielt entwickeln – gibt es bislang nicht.
Die Bedarfsanalyse des IUIL ist ein Anfang und geht auf eine Initiative des Arbeitsministeriums zurück: Die Wissenschaftler haben nicht nur marko-ökonomische Daten zusammengetragen; noch wichtiger waren Gespräche mit den Leistungsanbietern selbst. „Sie haben uns wertvolle Informationen geliefert, um den Fortbildungsbedarf festzustellen“, so Forscher Dominique Pierret. Eine systematische Herangehensweise, die das Institut nicht nur im Pflegebereich, sondern beispielsweise auch in der Medizin oder bei den juristischen Verwaltungsberufen verfolgt. Auf der Analyse aufbauend, werden dann Fortbildungen konzeptualisiert. So wurde für ausländische Mediziner, die nach Luxemburg kommen, eine Fortbildung auf die Beine gestellt, die Neuankömmlingen Eckdaten, Regeln und andere Informationen über das luxemburgische Gesundheits- und Spitalwesen vermittelt. Eine andere richtet sich gezielt an die durch die Gesundheitsreform geschaffenen Médecins-coordinateurs und wurde auf Anfrage der Krankenhäuser und der Ärztevereinigung erstellt. „Ziel ist es, Fortbildungen zu entwickeln, die auf die Bedürfnisse des Sektors abgestimmt sind“, so Institutsdirektor Pol Wagner.
Für den Pflegebereich wurde ein Schwerpunkt bereits ermittelt: eine Fortbildung im Bereich Managementkompetenzen. Denn, das schrieb die Copas in ihrem trimestriellen Bulletin vom Oktober 2010, im Rahmen der Gesundheitsreform wird voraussichtlich künftig stärker an der Geldschraube gedreht. Statt fünf bis sechs Prozent rechnet die Copas nur noch mit einer Zuwachsraten von drei bis vier Prozent im Gesundheitswesen – Kostenbewusstsein und effiziente Organisation im Bereich der Altenpflege und Behindertenbetreuung, so die Einschätzung der Copas, würden dadurch immer wichtiger. Das ist ein Grund, warum das IUIL seit einiger Zeit eine Ausbildung im Bereich der Managementkompetenzen anbietet: Pflegekräfte sollen künftig auch wirtschaftliche Aspekte mitdenken können.
Das allein wird aber nicht reichen, um den Sektor auf die Zukunft vorzubereiten. „Wir sind nicht mehr bei kleinen Familienbetrieben“, so Cimetta. Die Träger haben oft ein paar hundert Mitarbeiter, haben eigene Human-Ressources-Abteilungen aufgebaut, die händeringend nach Strategien suchen, um an das nötige Fachpersonal zu kommen. Die Zeit drängt. Denn der Wettbewerb um die besten Pflegekräfte nimmt europaweit zu. Allein in Deutschland prognostiziert das Statistische Bundesamt, dass in 15 Jahren etwa 152 000 Pflegekräfte fehlen werden. Bisher hat Luxemburg mit seinen attraktiven Gehältern die Nase in der Großregion vor^n, aber beim deutschen Nachbarn werden Forderungen nach Lohnsteigerungen lauter. Und da der Pflegekräftebedarf wächst, wird der Wettbewerb um die besten Köpfe nur noch zunehmen.
Die – erfolgreiche – Suche nach Fachkräften ist aber nicht nur wichtig, um Qualität zu sichern und zu erhöhen: Experten sehen einen Zusammenhang zwischen Arbeitsstress und massiven Qualitätsmängeln bis hin zur Misshandlung von Pflegebedürftigen. Wenn Betreuungsschlüssel und Fachkräftequoten nicht mehr eingehalten werden, und gering qualitfizierte Arbeitskräfte anspruchsvolle Pflegetätigkeiten übernehmen, riskiert der „humanistische Faktor“, den Leitungsanbieter gerne betonen, auf der Strecke zu bleiben. Einer Zufriedenheitsstudie vom vergangenen Jahr des Service d’Epidémiologie Clinique et de Santé Publique des CRP Santé zufolge würden rund 60 Prozent der Luxemburger Heiminsassen ihre Einrichtung weiterempfehlen. Ansonsten ist die überwiegende Mehrheit der Nutzer von Pflegedienstleistungen recht zufrieden. Die Frage lautet: Wie lange noch?