In manchen Stadtvierteln gibt es stille Nebenstraßen, wo üppige und manchmal etwas vernachlässigte Hecken und Sträucher den Blick auf die mehrstöckigen Einfamilienhäuser versperren. Die Garageneinfahrten sind sanft zugewachsen, in den oberen Stockwerken sind die Rollladen ständig heruntergelassen, und in den Gärten hat Efeu den Sandkasten überwuchert. Autos sind selten in diesen Straßen – bis auf das erstaunliche Ballett der weißen und silbernen Kleinwagen von Help und Hëllef doheem. Im Stundentakt fahren Pfleger in weißen Kitteln vor, mütterlich runde Frauen, hagere Männer mit deutschem Akzent. Für einige Zeit verschwinden sie in den etwas düsteren Häusern, um nach ihren einsamen Bewohnern, oft al-te, gehbehinderte oder bettlägerige Witwen, zu sehen, und fahren dann weiter, ohne sich jemals von ihren Klemmbrettern voller Formulare zu trennen.
Vergangenes Jahr wurden laut Abrechnung der Gesundheitskasse 7 178 Personen mit finanziellen Mitteln aus der Pflegeversicherung zu Hause betreut, meist pflegebedürftige Alte, aber auch Behinderte. Seit 1999, als die Pflegeversicherung eingeführt wurde, hat sich ihre Zahl verdreifacht, auch wenn sie inzwischen deutlich langsamer wächst. Um Pflegeabhängige zu Hause zu versorgen, kommen in schweren Fällen mehrmals am Tag Pfleger vorbei, um sie, ähnlich wie in Heimen, zu waschen, an- und auszuziehen, die Mahlzeiten zuzubereiten, ihnen beim Essen zu helfen, ihnen ihre Medikamente zu verabreichen, ihnen bei der Fortbewegung in der Wohnung zu helfen und sie auszuführen. Die Pflegeversicherung finanziert auch die Einstellung eines privaten Pflegers oder die Montage eines Treppenlifts, und als Konkurrenz zu den Seniorenclubs haben manche Einkaufszentren reservierte Parkplätze für Pflegedienste, die ihre Patienten zum Einkaufsbummel fahren.
Daneben übernimmt die als neuer Bestandteil der gesetzlichen Sozialversicherung eingeführte obligatorische Pflegeversicherung seit mehr als einem Jahrzehnt einen Teil der Pflegekosten in Pflegeheimen. Vergangenes Jahr waren das 3 601 Personen in Pflegeheimen, 69,4 Prozent mehr als 1999.
So schuf die anfangs nicht unumstrittene Pflegeversicherung beinahe einen neuen Wirtschaftszweig. Schon ein Jahr, bevor das Parlament das Pflegeversicherungsgesetz stimmte, hatten anderthalb Dutzend Vereinigungen und Verbänden von Pflegeheimen, Altersheimen, Behinderten- und psychiatrischen Einrichtungen sowie Zentren zur Pflege zu Hause im Sommer 1997 ihre Lobby gegründet, die Confédération des organismes prestataires d’aides et de soins (Copas). Der Copas gehören heute Dachverbände von Pflegebetriebe mit insgesamt mehr als 9 000 Beschäftigten an. Der Pflegesektor beschäftigt inzwischen weit mehr Leute als die heimische Stahlindustrie mit all ihren Tochterunternehmen.
Die Pflegeversicherung war eine der erfolgreichsten staatlichen Beschäftigungsmaßnahmen aller Zeiten, die in einem Atemzug mit der Schleifung der Festung, dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und der Antikrisendivision der Stahlkrise zu nennen ist. Diese beschäftigungspolitischen Auswirkungen bestätigen im Ausland gemachte Beobachtungen: Will die öffentliche Hand möglichst rasch möglichst viele Arbeitsplätze schaffen, so tut sie dies am besten in den sozialen Dienstleistungen.
Entsprechend ist auch der Umsatz. Die Pflegeversicherung gab vergangenes Jahr fast 400 Millionen Euro für Naturalleistungen aus, das heißt die Pflege zu Hause und in Heimen sowie für oft von spezialisierten Händlern und Handwerken gelieferte Hilfsgeräte zugunsten pflegebedürftiger und behinderter Personen. Hinzu kommen Leistungen, zu denen die Pflegebedürftigen zuschießen müssen oder sie ganz aus der eigenen Tasche zahlen. Ähnliches gilt für Putz- und Unterhaltsarbeiten in den Haushalten Pflegebedürftiger.
Den Pflegemarkt teilen sich vor allem zwei Gruppen, die durch den alten Kulturkampfgraben getrennt sind, der auch durch die Parteien, die Gewerkschaften, die Presse und eben auch zwischen dem laizistischen Roten Kreuz und der katholischen Caritas verläuft: die vom CSV-Abgeordneten Paul-Henri Meyers präsidierte katholische Stiftung Hëllef doheem und das laizistische Netzwerk Help. Daneben gibt es noch eine ganze Anzahl kleinerer Verbände, freischaffende Pfleger und sogar Familienangehörige, die durchschnittlich 724 Euro im Monat für Hilfsleistungen aus der Pflegeversicherung beziehen.
Die Stiftung Hëllef doheem ist die Vereinigung, in der die Congrégation des Frères de charité, die Congrégation des Sœurs du tiers-ordre régulier de Notre Dame du Mont Carmel, die Chanoinesses régulières de Saint-Augustin de la Congrégation de Notre Dame, die Congrégation des Franciscaines de la Miséricorde, die Congrégation des Sœurs du pauvre enfant Jésus, die Congrégation des Sœurs hospitalières de Sainte-Elisabeth, die Aide familiale aide senior der Caritas, die Foyers seniors und die Maisons de retraite des Sœurs de la doctrine chrétienne ihre Pflegedienste zusammenfassten, als die Pflegeversicherung geschaffen wurde. Sie zählte Anfang des Jahres 25 Zentren mit 1 560 Beschäftigten, darunter rund zwei Drittel Teilzeitarbeitskräfte.
Zum Help-Netwerk gehören neben dem Roten Kreuz das Syrdall Heem in Niederanven, zu dem auch Tageszentren in Remich und Sandweiler, der Seniorenclub Sandweiler und die Pflegeantenne in Dalheim zählen, das Wasserbilliger Altersheim Muselheem und das interkommunale Spital von Steinfort, das ein Pflegeheim, eine geriatrische Rehabilitation und eine Tagesstätte für Alte umfasst. Weitere Mitglieder sind das Escher Spital Emile Mayrisch, die Beschäftigungsinitiative Objectif plein emploi und der Verein Uelzechtdall des Bofferdinger Tageszentrums. Alleine der zu Help zählende Verein Doheem versuergt des Roten Kreuzes kam auf 840 Beschäftigte, darunter rund ein Drittel Teilzeitbeschäftigte. Er begann im Oktober vergangenen Jahres eine Zusammenarbeit mit der Wach- und Schließgesellschaft G4S, um Alarmanlagen, Seniorenalarme, Überwachungskameras und wohl auch Funkstreifendienste anzubieten.
Im Jahr 2002 kam der Statec erstmals den Bitten des Gesundheits- und Sozialsektors nach und nahm ihn in seiner jährlichen Statistik der größten Arbeitgeber auf. Damals zählte neben dem Centre hospitalier in Luxemburg und dem Escher Spital die öffentliche Alters- und Pflegeheimgruppe Servior mit 970 Beschäftigten zu den 20 größten Arbeitgebern im Land; mittlerweile beschäftigt Servior 1 310 Leute. Ein Jahr später, 2003, tauchte die Stiftung Hëllef doheem mit 990 Beschäftigten unter den 20 größten Arbeitgebern auf, 2010 sind es 1 560. Die vor allem Behinderte betreuenden Apemh und Ligue HMC beschäftigen 330 beziehungsweise 280 Angestellte, die Association Luxembourg Alzheimer 250 Leute.
Die Pflegeversicherung trug aber nicht nur zum Boom eines neuen Wirtschaftszweigs, des Pflegesektors bei. Die zweite wirtschaftliche Konsequenz war ihre Auswirkung auf den Immobiliensektor. Denn die Pflegeversicherung versprach Ende der Neunzigerjahre vielen Alten, dass sie ihnen den Umzug in ein Pflegeheim ersparen und die Möglichkeiten schaffen könne, sie so lange wie möglich zu Hause zu versorgen. Damit kam sie nicht nur den Wünschen vieler Pflegebedürftiger nach, die den Lebensabend lieber mit dem Telealarm am Handgelenk zu Hause beim Nachmittagsprogramm eines deutschen Privatsenders verbringen. Sie sollte auch die Nachfrage nach Pflegeheimplätzen senken und so den politischen Streit um einen Mangel an Pflegebetten beilegen, als wackere Gewerkschafter und ADR-Abgeordnete den Preis jedes Museums in Pflegebetten umrechneten. Außerdem rechnete man sich aus, dass bei der richtigen Dosierung der zugestandenen Pflegeleistungen ein durchschnittlicher Pflegefall in den eigenen vier Wänden die Allgemeinheit billiger zu stehen kommt als ein solcher in einem Heim.
Die Folge der von der Pflegeversicherung finanzierten Pflege zu Hause ist, dass weniger Wohnungen von Bewohnern, die in ein Pflegeheim umziehen müssen, geräumt und auf dem Wohnungsmarkt angeboten werden. Dies führt aber nicht selten dazu, dass Wohnraum ungenutzt bleibt, wenn pflegebedürftige Personen nach dem Tod des Ehepartners und dem Auszug der Kinder ein mehrstöckiges Einfamilienhaus ganz allein belegen, in dem sie aus gesundheitlichen Gründen vielleicht nur noch einige Zimmer im Erdgeschoss bewohnen können.
Bei der Volkszählung von 2001 gab es 50 384 Einpersonenhaushalte im Land, davon war ein Drittel Leute von 65 Jahren und mehr. Alleinstehende Rentner machten zehn Prozent aller Haushalte aus. Man muss die Volkszählung in einem halben Jahr abwarten, um zu sehen, ob dieser Anteil während des Jahrzehnts, in dem die Pflegeversicherung existierte, zugenommen hat.