D’Lëtzebuerger Land: Als Reaktion auf euren Protest hat die Ministerin zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Ein Erfolg?
Michèle Stiefer: Ich finde es traurig, dass wir erst einmal demonstrieren müssen, bis wir überhaupt informiert werden.
Michel Hoffmann: Das ist auf jeden Fall für uns ein Erfolg, auch wenn ich es ebenfalls schade finde, dass wir zunächst auf die Straße gehen mussten.
Tatsächlich hat das Ministerium die nationale Schülervertretung angeschrieben und sich mehr als einmal mit ihr getroffen.
M. H: Meiner Information nach waren es zwei Treffen, wo die Schülervertreter eingeladen waren. Eines davon fand in meinem Lycée statt und da waren fünf bis sechs Schüler. Bei dem im Süden sollen es um die zwölf gewesen sein. Auf dieser Basis kann keine Rede davon sein, die Schüler wären konsultiert worden.
Wessen Schuld war das?
M. H: Vielleicht hat auch auf Seiten der Schülervertreter die Kommunikation etwas gehapert. Aber inzwischen haben wir mobilisiert. Auf dem Blog unseres Aktionskomitees kann sich jeder informieren, der will. Immerhin betrifft es eine Reform, die uns alle angeht.
Euch geht es aber nicht nur um die Information.
M. S: Nein, es geht auch darum, in die Entscheidungen einbezogen zu werden.
Was wollt ihr? Auf Facebook liest man Einträge, die das alte Zugangsexamen zum Sekundarunterricht fordern. Andererseits setzt sich die Studentenorganisation Unel für eine Gesamtschule ein.
M. S: Wir sind nicht komplett gegen die Reform. Das Problem ist eher, dass viele Aspekte unklar sind oder fehlen. Beispielsweise wissen die Lehrer nicht, wie der nun in Travail personnel umbenannte Travail d’envergure aussehen soll. Auch sind die Kompetenzen im unteren Zyklus nicht präzise genug definiert, so dass unklar ist, wie die Bewertung aussehen soll.
Was haltet ihr vom Travail personnel?
M. S: Ich finde die Idee prinzipiell gut. Es ist eine Vorbereitung auf die Hausarbeiten, die es an der Universität gibt. Wir lernen, selbständig zu arbeiten. Aber dafür 100 Stunden außerhalb des Unterrichts vorzusehen, finde ich nicht gut. Wir haben schließlich keine vorlesungsfreie Zeit, sondern auch noch Prüfungen und Hausaufgaben vorzubereiten.
M.H: Der Travail personnel entscheidet mit darüber, ob ein Schüler zur 13e beziehungsweise zur 1ère zugelassen wird. Was bedeutet das aber für die Prüfungen, fallen die weg? Wie wird die Note berechnet? Ist es nur ein Stresstest oder geht es auch um Inhalte? Mich schockiert zudem, dass ein Lehrer sechs Schüler bei ihren Travaux betreuen soll. Erstens weiß jeder, dass jetzt schon Lehrer fehlen. Zweitens ist lediglich eine Stunde Besprechung pro Woche vorgesehen – für sechs Schüler. Das sind also knapp acht Minuten pro Schüler.
Ist das Fundamentalkritik, oder geht es bei eurer Kritik eher um Details?
M. H: Persönlich meine ich, dass unsere Schule auch ohne den Travail funktioniert. Schließlich werden heutzutage Referate geschrieben. Wir üben jetzt schon selbständiges Arbeiten. Ich weiß also nicht, wofür man den Travail braucht. Und das Argument mit der Vorbereitung auf die Uni: Nicht jeder will studieren gehen.
Das Ministerium begründet die Reform damit, mehr Schüler besser auf die Uni vorbereiten zu wollen. Auch sollen Schüler mehr Methoden an die Hand bekommen, um in der heutigen Arbeitswelt zu bestehen. So ist vorgesehen, den Travail als Gruppenarbeit machen zu können.
M. S: Wir machen doch Referate, da kann man das auch üben. Und da ist immerhin klar, wie sie bewertet werden.
M. H: Es gibt den Spruch, ,Team‘ stehe für: ,Toll, ein anderer macht’s.‘ Das erleben wir ja schon zum Teil heute mit den Referaten. Ich möchte nicht mit meiner Arbeit von anderen abhängen, sondern für meine Resultate selbst verantwortlich sein.
Wie steht es mit dem neuen Examen? Künftig soll in Kernfächern und ausgewählten Nebenfächern geprüft werden. Das müsste euch entgegen kommen.
M. H: Das sehe ich auch kritisch. Weniger Examensfächer bedeutet vielleicht, unser Diplom zu entwerten.
Ähnliche Strukturen gibt es im Ausland seit vielen Jahren. Sind dortige Diplome deshalb weniger wert?
M. H: Ich will mich nicht dazu äußern, welches System besser ist. Aber die geplanten Dominantes hängen jedenfalls eng mit den Wahl- und Pflichtfächer zusammen. Und diese wiederum mit dem Examen. Wie, ist noch zu klären. Ich mache mir Sorgen, dass am Ende unser Luxemburger Diplom weniger wert sein könnte
Was sagt ihr dazu, dass Schüler mehr Wahlfreiheit bekommen soll?
M. S: Man wählt heute schon seine Richtung und damit seine Fächer.
M. H: Mehr Wahlmöglichkeiten zu haben, könnte attraktiv sein, aber nur wenn klar ist, was ich später machen will. Heutzutage kann ich, wenn ich von einer D-Sektion komme, dennoch Sprachen studieren. Kann ich das mit dem neuen System auch? Wählen ist gut, bedeutet aber, dass man etwas anders aufgeben muss. Und dann ist die Frage: Muss ich, wenn es ein bestimmtes Wahlfach nicht gibt, die Schule wechseln?
Euer Protest hat ursprünglich als Kritik an der neuen Berufsausbildung gestartet. Was sind dort Eure Bedenken?
M. S: Das Hauptproblem ist, dass es noch keine Programme gibt. Die Lehrer wissen zum Teil noch gar nicht, was sie mit ihren Schülern machen sollen, welches Material sie brauchen.
M. H: Auch bei den Modulen stellen sich organisatorische Probleme. Was ist, wenn man das Modul nicht besteht? Die Frage ist zudem, ob immer die nötige kritische Masse da ist, um die Kurse wiederholen zu können. Und dann ist da die Frage der Bewertung: Die Noten wurden abgeschafft, stattdessen wird geguckt, ob der Schüler bestanden hat oder nicht bestanden. Aber das ist schwer, für den Lehrer zu beurteilen, denn die Kompetenzen sind nicht klar definiert.
Ist eurer Protest von der Kritik eurer Lehrer beeinflusst? In eurem Blog überwiegen Beiträge, die reformskeptisch sind. Auf eurer Facebook-Seite konnte man auch kritische Lehrerbeiträge lesen.
M. H: Wir veröffentlichen jeden Beitrag, ob für oder gegen die Reform. Wir haben zudem die Dokumente des Ministeriums auf unsere Webseite gesetzt. Es geht uns nicht darum, die Leute zu manipulieren, sondern darum, ihnen zu erlauben, sich eine Meinung zu bilden. Was die Lehrer angeht: Natürlich haben wir mit ihnen geredet.
Habt ihr auch Kontakt zu solchen, die der Reform etwas abgewinnen können?
M. H: Ja, es gibt welche, die finden, die Schule muss sich ändern. Aber das wissen wir auch. Wir sitzen auch in unseren Bänken und langweilen uns. Deswegen plädieren wir für eine Pause. Die wäre wie ein Stoppschild zu verstehen: Da halten wir auch an, um uns zu vergewissern, dass nicht doch noch etwas Unvorhergesehenes von links oder rechts heranprescht. Wir fordern auf jeden Fall, den Termin vom 5. Dezember für den Gesetzes-Vorentwurf nach hinten zu verlegen.
Die Französischlehrervereinigung APFL, die euch unterstützt, fordert die Aufwertung des Französischen. Ein Beitrag auf eurem Blog kritisiert dagegen den starken Fokus auf dem Französischen und betont, Schüler, die nicht so sprachenbegabt sind, würden in unserem System benachteiligt und müssten stärker gefördert werden.
M. S: Eigentlich ist das eine gute Sache: Es gibt Schüler, die sind besser in der Mathe und andere, die sind besser in den Sprachen. Ich denke dennoch, dass man das alte System beibehalten sollte. Die Schüler müssen sich eben anstrengen, das Niveau zu erreichen, was man braucht. Wenn wir keine klaren Anforderungen bekommen, strengen wir uns nicht an.
Ist die Realität nicht vielmehr, dass viele Schüler, darunter viele nicht-luxemburgische, an zu hohen Sprachanforderungen scheitern?
M. H: Dass das Niveau herabgeschraubt werden soll, um mehr Leuten ein Diplom zu ermöglichen, halte ich für falsch. Dann ist es doch kein Wunder, dass sie nicht mehr im Ausland angenommen werden.
Der Vorwurf aus dem Ausland lautet, sie hätten zu wenig Allgemeinwissen, etwa im Bereich Naturwissenschaften.
M. H: Mag sein. Aber Luxemburg grenzt nun mal an drei Länder. Wir brauchen die Sprachen und sie sollen auf einem hohen Niveau unterrichtet werden. Ich finde es schlimm, dass mit der Reform hohe und sehr hohe Sprachanforderungen nur noch auf dem Classique verlangt werden, und man sich im Technique mit befriedigenden Leistungen abgibt.
Das klingt elitär.
M. H: Wieso?
Wenn die Kriterien weiter verschärft würden, wären noch weniger Schüler berechtigt, eine Hochschule zu besuchen. Braucht Luxemburg nicht mehr Uni-Absolventen, weil wir schon heute mit Hochschulabsolventen aus der Großregion konkurrieren?
M. H: Und genau deshalb sehe ich nicht ein, warum unser Diplom entwertet werden soll. Luxemburger Studenten sind in der Vergangenheit immer an den Universitäten angenommen worden, zum Teil ohne Eintrittsexamen.
Ein Drittel bricht vor Ende des Studiums ab; der Anteil derer, die studieren, ist vergleichsweise niedriger als im Ausland.
M. H: Ich kenne die Statistiken nicht, aber ich bleibe dabei: Wenn man das Niveau weiter herabschraubt, wem ist dann geholfen? Dann müssen die Schüler vielleicht bei sich gucken.
Soll heißen, sie büffeln nicht genug?
M. S: Ich finde das nicht elitär. Es gibt nun einmal Schüler, die können besser auswendig lernen. Wenn man sie weniger fördert, werden sie bequem.
Ihr seid demnach mit dem heutigen System vollauf zufrieden? Was ist mit dem enormen Retard scolaire, den hohen Durchfallquoten?
M. H: Wir sagen auch, dass sich etwas ändern muss. Aber ich finde das Bild von Herrn Reding (Daniel Reding. Präsident der Apess, d. Red.) trifft die Situation ganz gut: Wenn es in einer Wohnung einen Wasserschaden gibt, muss man das Leck flicken und nicht das ganze Apartment abreißen. Man sollte diesen Moment als Chance sehen, die Änderungen in eine bessere Richtung zu steuern.
In welche Richtung dann?
M. H: Das müssen wir herausfinden. Deshalb fordern wir ja das Moratorium. Um Zeit zu haben, alles noch einmal sorgfältig zu prüfen.