„Ich mache mir Sorgen um meine Zukunft“, sagt Tom Eckardt. Der 16-jährige Schüler des Lycée technique des arts et métiers ist einer von rund 300 Demonstranten, die sich am Donnerstagnachmittag vor dem Unterrichtsministerium am hauptstädtischen Aldringen eingefunden haben. Es war Eckardt, der zusammen mit seinem Klassenkameraden, Christoffer Santos, zu der Protestkundgebung gegen die Schulreformen aufgerufen hatte.
Wer die entsprechenden Seiten auf Facebook mit dem Demoaufruf aufsucht, wird sehen, so klar ist es nicht jedem, gegen wen oder was da genau demonstriert werden sollte. Von „fuck the system“ und „de ganze Schoulsystem ass e Schaiss“ bis „mir brauchen keng Reform, mais eng Revolutioun“ reichen die Beiträge im Internet. Die einen sind für den Status quo und gegen jegliche Reformen („wuel verdengte Punkte behalen“), andere fürchten, geliebte Prüfungen würden abgeschafft. Wieder anderen gehen die Reformen der sozialistischen Unterrichtsministerin nicht weit genug. Gemeinsam haben die meisten Kommentare: Sie wissen nicht, was die schwarz-rote Koalition für ihre Zukunft plant.
Ministerin Mady Delvaux-Stehres und ihre Berater werden sich also mindestens eine Lektion hinter die Ohren schreiben müssen: Ihre Informationspolitik in Richtung Endverbraucher, den Schülern, ist erheblich verbesserungsbedürftig.
Die zuständigen Beamten betonen, sämtliche Vorentwürfe zu den Reformplänen nicht nur der Elternorganisation Fapel, sondern auch an die nationale Schülerkommission geschickt zu haben. Bloß, dass das keinesfalls ausreicht, um tausende von Zwölf- bis 18-Jährige umfassend über die komplexen Reformen zu informieren, deren Bestandteile teils nicht einmal Lehrer erklären können, dürfte jedem klar sein, der die Wirklichkeit an den Schulen kennt: Dort ist oft von Demokratie die Rede, aber die Strukturen – Klassenrat, Schülerkomitee, Conseil d’éducation – funktionieren oft mehr schlecht als recht. In einigen Gebäuden funktionieren sie nach Aussagen von Jugendlichen gar nicht.
Auch Tom Eckardt hatte Vertreter des Schülerkomitees in seinem Lyzeum zu den Reformen befragt. Bis heute habe er keine Antwort, sagt er. Die Schule hielt es offenbar nicht für notwendig, gezielt die Jugendlichen über die Änderungen zu unterrichten. Eine Informationsversammlung speziell für die Schüler gab es jedenfalls nicht. Dabei gilt das Kunst-Lyzeum auf dem Limpertsberg in der Hauptstadt als Hort der Gegner der neuen Berufsausbildung, von der auch Beamte im Ministerium sagen, dass es mit der Umsetzung „dicke Schwierigkeiten“ gebe. Nicht zuletzt der vorige Direktor des LTAM hatte die Reform wegen der Neuordnung des Technikers massiv kritisiert.
„Auf manche unserer Fragen wusste die Schulleiterin keine Antwort“, sagt Tom Eckardt im Gespräch mit dem Land. Gemeinsam mit Kollegen hatte er Lehrer und Schulleitung um Rat in punkto neuer Berufsausbildung gefragt – und war angesichts der vagen Antworten zu der Überzeugung gekommen, dass „wir protestieren müssen“. Als sein Aufruf zur Demo im Netz kursierte, ging alles plötzlich ganz schnell: Beamte nahmen Kontakt mit den Organisatoren auf und luden die jungen Kritiker kurzerhand ins Ministerium. Während Regierungsrat Marc Barthelemy die Atmosphäre des Treffens als „ganz gut“ lobt, scheinen Zweifel und Bedenken dennoch nicht ausgeräumt. „Die haben so herumgeredet. Wirklich weiter geholfen haben sie nicht“, findet jedenfalls Tom Eckardt, der darauf besteht, dass alle Schüler über die Änderungen informiert werden müssen. Er und seine Kollegen mobilisierten weiter. Inzwischen nicht mehr nur gegen die Berufsausbildung, sondern auch gegen die Sekundarschulreform.
Es ist nicht das erste Mal, dass das Ministerium bei Beschwerden von Schülern auf Durchzug stellt und nicht beziehungsweise spät reagiert. Als im Frühjahr ein neues Gesetz für eine erweiterte Datenbank auf den Instanzenweg geschickt wurde, geschah dies ohne Konsultation der Schüler. Die neue Datenbank soll Längsschnittstudien erlauben und ein tieferes Verständnis über Schullaufbahnen ermöglichen, weshalb persönliche Daten über einen Zeitraum von bis zu 15 Jahren gespeichert würden. Etlichen Schülern war das nicht geheuer. Via Twitter griff die computerphile Piratenpartei das Streitthema auf. Und obwohl auch Beamte des Unterrichtsministeriums in sozialen Netzwerken unterwegs sind, und die Kritiker immer zahlreicher wurden, ließ sich die Ministerin bis zur Rentrée im September Zeit, um – in zwei knappen Sätzen – die Datenbank zu verteidigen. Eine überzeugende Kommunikation sieht anders aus.
Ob Aussitzen die richtige Strategie bei der Sekundarschulreform ist, darf bezweifelt werden. Mit ihrem Aufruf haben die Schüler einen Nerv getroffen. Rund 1 780 Jugendlichen hatten bis Donnerstag auf Facebook ihre Teilnahme an der Demo zugesagt. Auch wenn viel weniger erschienen und zuletzt skeptische Stimmen überwogen, Ärger und Verunsicherung sind doch deutlich spürbar.
So fordert ein Schüler, der nicht grundsätzlich gegen Reformen ist: „Dann muss d’Ministech vlaicht och d’Schüler besser informéiren wann se eng Reform well durchzeien. Dat ass jo schliesslich hieren Job an d’Schüler sin niewt Proffen die haapt-concernéiert.“
Aus dem Ministerium heißt es inzwischen, man sei dabei, „über eine neue Kommunikation“ zu beraten. Aufgeschreckt durch die angekündigten Proteste steckten die Berater der Ministerin letzte Woche die Köpfe zusammen. Konkrete Ergebnisse gibt es aber noch nicht. Stattdessen äußerten Beamte am Mittwoch hinter vorgehaltener Hand die hilflose Hoffnung, die Demo möge nicht zu groß werden – aber auch nicht zu klein. Schließlich wolle man dort „Ansprechpartner finden“.
Auch die starke Arbeitsbelastung wird als Erklärung für die eigene Ideen- und Tatenlosigkeit angeführt, und man sei schließlich „auf die vorhandenen Strukturen angewiesen“. Und die habe man mit dem Versenden der Dokumente informiert. Allerdings hat das Ministerium beim Grundschulgesetz und bei den Vorarbeiten zur Sekundarschulreform selbst gezeigt, wie innovativ es sein kann, wenn es denn will: Die Ministerin reiste persönlich durch das Land, um die groben Linien der Grundschulreform zu erklären und skeptische Eltern und Lehrer zu beruhigen. Statt wie früher Entwürfe vorrangig den Lehrergewerkschaften zur Begutachtung zu geben, werden diese mittlerweile direkt an die Schulen geschickt. So soll vermieden werden, dass bei strittigen Themen die – oft skeptischen – Gewerkschaften die Debatte dominieren und auch den Reformen wohl gesonnene Direktoren und Lehrer zu Wort kommen. Denn es gibt sie – obschon Schüler in ihrem Aufruf behaupten, die Mehrheit der Lehrer würde die Reformen ablehnen und die Pläne seien teils nicht durchsetzbar. Übrigens hatten es auch die Direktionen nicht für nötig gehalten, die Schüler in ihre Stellungnahmen zu den Reformvorschlägen einzubeziehen.
Um die Sekundarschulreform umzusetzen, kann sich die Ministerin derartige Lücken in der Kommunikation und Konsultation jedenfalls nicht leisten: Die Lehrer der Lyzeen sind besser organisiert. Obwohl die Reformpläne in Zusammenarbeit mit Lehrern erstellt werden, und sich sogar 15 Lycées pionniers an die Spitze der Reformen gestellt haben, scheinen etliche Lehrer an der Basis nicht positiv eingestellt. Ihr Grummeln ist unüberhörbar. Unter die Facebook-Protestler hatten sich auch Lehrer gemischt, die gegen die geplante Umstrukturierung sind. Einer empfahl den Jugendlichen, unbedingt außerhalb der Schulstunden zu demonstrieren, um „nogelauschtert“ zu bekommen und behauptete, das Ministerium sei nicht an einer inhaltlichen Debatte interessiert. Ein anderer Beitrag wähnte die Leiterin des Lycée technique des arts et métiers auf „unserer Seite“. LTAM-Direktorin Véronique Schaber äußerte Verständnis für die „Doléancen“ der Schüler, sagte dem Land aber, nicht zur Demo aufgerufen zu haben.
Vorbild der jungen (und älteren) Reformgegner ist offenbar Kanada: Dort führten erhebliche Proteste von Lehrern, Eltern und Schülern dazu, dass Teile der kompetenzbasierten Schulreform zurückgenommen beziehungsweise geändert werden mussten.
Aber selbst wenn Lehrer die Schülerdemo nutzen sollten, um ihre Interessen zu pushen, Fakt ist, dass es die sozialistische Ministerin war, die sich das Motto „Partenariat“ auf die Fahnen geschrieben hat. Das Schlagwort bildet den Kern der -Berufsausbildungsreform und des neuen Grundschulgesetzes. Während Eltern in den Grundschulen allmählich mehr Mitspracherecht erhalten, hat sich für die Schüler kaum etwas geändert. Dabei ist es nicht zuletzt das Unterrichtsministerium, das darüber klagt, die heutige Jugend sei politisch wenig interessiert. Laut der International Civic and Citizenship Education-Studie von 2009 sieht es in Luxemburgs Schulen mit der demokratischen Beteiligung eher mau aus.
Für die meisten Erwachsenen scheint immer noch unvorstellbar, dass Jugendliche an Beratungen über Änderungen, die sie selbst betreffen, beteiligt werden. Warum eigentlich? Wer die Autonomie und Demokratiefähigkeit der Schüler erhöhen will, täte gut daran, ihnen auch Gelegenheit zur Teilnahme zu geben.
„(Uerdentlech) informéiren ass jo och nemmen den eischten Schratt. Den zweeten muss et sinn mei Demokratie ze woen an d’Schüler aktiv an d‘Reform ze involvéiren, sou dat d’Schüler och matbestemmen kennen. D’Schülerkomiteen sinn schliesslech net nemmen do fir Schoulfester ze organiséiren...“, fasst ein Schüler auf Facebook den Frust vieler Schulkameraden in Worte. Für den 16-jährigen Tom Eckardt wäre ein erstes Ziel erreicht, wenn „wir über Pläne, die uns und unsere Zukunft betreffen, auch ausführlich informiert würden.“ Danach wolle man weiter sehen.