Ein Gericht hat Teile der Orientierungspraktik für unzulässig erklärt

So nicht!

d'Lëtzebuerger Land vom 28.10.2011

Dieses Urteil dürfte Schüler und Eltern aufhorchen lassen. Der Avis d’orientation, der darüber bestimmt, ob ein Schüler nach der sechsten Klasse ein klassisches oder ein technisches Lyzeum besuchen darf, ist in seiner jetzigen Form nicht rechtens. Denn er verstößt gegen die Regel, dass jede administrative Entscheidung begründet werden muss. Ein einfaches Kreuz, das angibt, welchen Bildungsweg ein Schüler einschlagen soll, reicht nicht aus, urteilte das Verwaltungsgericht Anfang Oktober. Geklagt hatten zwei Elternpaare, die sich mit der Orientierung ihrer Kinder in den Technique nicht zufrieden geben wollten – und jetzt in erster Instanz Recht behalten.

Das Urteil kommt nicht unerwartet. Dem Ombudsmann lagen im vergangenen Jahr mehrere Beschwerden von Eltern zur Orientierungsprozedur vor, allerdings lief die Beratung durch den Médiateur bislang zumeist darauf hinaus, das Verfahren nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Sollte das Urteil der Richter Bestand haben, würde ein einfaches Kreuz nicht mehr ausreichen, sondern der Avis d’orientation des aus Grund- und Sekundarschullehrern sowie einem beratenden Psycho[-]logen zusammengesetzten Conseil d’orientation müsste genau begründen, warum er welchen Schulzweig vorgibt – und die Gründe dieser Entscheidung transparent machen.

Dass das aktuelle Verfahren nicht befriedigend ist, sondern immer wieder Anlass zur Kritik gibt, hat auch die Unterrichtsministerin eingesehen und eine Reform angekündigt. Gilt die Orientierung am Ende der Grundschule doch als Schlüsselmoment, der über den schulischen und beruflichen Werdegang eines Jugendlichen wesentlich entscheidet. Das war übrigens auch der Grund, warum die Eltern das Verdikt der Schule nicht einfach hinnehmen wollten. „Die Entscheidung hat weitreichende Folgen für unseren Sohn. Da kann es nicht sein, dass wir nicht einmal die Begründung bekommen“, sagte die Mutter dem Land. Ein Brief der Eltern, in dem diese der Schule ihren Standpunkt erläuterten, blieb unbeantwortet.

Weitreichend ist die Orientierung in der Tat. Die Folgestudie der Magrip-Studie der Universität Luxemburg belegt dies: Mehr als in anderen Ländern bestimmt der Luxemburger Schulabschluss entscheidend den späteren beruflichen Erfolg. Um talentierte Schüler besser zu fördern, müssten kognitiven Kompetenzen stärker Rechnung getragen werden, so Bildungsforscher Romain Martin von der Uni Luxemburg bei der Vorstellung der Studie im September (d’Land vom 23.09.). Vor allem der starke Fokus auf dem Schriftsprachlichen wurde und wird von Bildungsexperten kritisiert. Dass die Chancen, einen höheren Bildungsweg einzuschlagen, nicht für alle Kinder gleich sind, hatte schon die Pisa-Studie bewiesen.

Dabei sollte die 1996 eingeführte Orientierung, die das Zulassungsexamen ablöste, eigentlich genau das tun: die Fähigkeiten des Schülers ganzheitlicher in den Blick nehmen. Ob das gelungen ist, bezweifeln sogar die Praktiker. In einer 2007 veröffentlichten Studie über den Passage post-primaire ziehen Vertreter des Unterrichtsministeriums ein selbstkritisches Fazit: „Si nous voulons par contre réaliser une orientation par profil qui ait pour objectif de documenter aussi précisément que possible les forces et les faiblesses des élèves et de coupler ce profil avec les aspirations professionnelles de l’élève, afin de pouvoir lui proposer un cursus scolaire adéquat, nous devons malheureusement constater que nous sommes toujours très loin de ce type d’orientation.“

Mit dem kompetenzorientierten Unterricht, so hofft das Ministerium, soll die Orientierung gerechter und transparenter werden. „Der Kompetenzansatz wird eine begründete Beurteilung erlauben, denn er stellt den Schüler und seine Fähigkeiten von Beginn an in den Mittelpunkt“, sagt Robi Brachmond von der Grundschulabteilung im Ministerium.

Aber auch wenn so genannte Deskripteure möglichst präzise beschreiben sollen, was ein Schüler am Ende der Grundschule können muss, um ein Lyzeum zu besuchen, ist unklar, ob ein neues Orientierungsverfahren der starken sozialen Segregation des Luxemburger Bildungssystems Einhalt gebieten und künftige Beschwerden verhindern kann. Zumal das Ministerium festgelegt hat, dass bestandene Mindeststandards wohl den Zugang zum Technique erlauben, nicht aber zum Classique. Inwiefern berücksichtigen die neuen Kompetenzniveaus kognitive Leistungen? Welches Gewicht wird weiterhin den Sprachen bei der Versetzung beigemessen? Trotz der Einführung differenzierter Sprachkompetenzen, wie zum Beispiel Hör- und Leseverstehen, ist die Dominanz des Schriftsprachlichen noch immer nicht gebrochen. Vor allem Sprachlehrer verteidigen diese zum Teil vehement – zum Nachteil derer, deren Talente eher im mathematisch-technischen Bereich liegen.

Einen weiteren Konfliktpunkt werden die Beamten wohl oder übel klären müssen: Wer soll das letzte Wort über den Bildungsweg eines Schülers haben: die Schule oder die Eltern? Denkbar wäre, dass ein ausführlicher Orientierungsbericht nur einen empfehlenden Charakter haben könnte, so wie das etwa in einigen deutschen Bundesländern der Fall ist. Ob dass allerdings die soziale Schieflage des Luxemburger Schulsystems lösen kann, ist nicht sicher: Studien aus dem Ausland zeigen, dass sich insbesondere gebildete Eltern dafür einsetzen, dass ihre Kinder das Gymnasium besuchen. Das dürfte hierzulande nicht anders sein: Die Eltern, die sich erfolgreich vor Gericht zu Wehr gesetzt haben, sind Akademiker, mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn: „Uns ging es um das Prinzip. Wir hoffen, dass Eltern künftig bei der Orientierung ein Wort mitzureden haben“, kommentierte die Mutter das Urteil, das Land-Informationen zufolge das Ministerium nicht anfechten will.

Ines Kurschat
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