Am nächsten Donnerstag um 14.30 Uhr empfangen die Abgeordneten des parlamentarischen Finanz- und Haushaltsausschusses in einem Konferenzsaal des Prinz-Richard-Gebäudes die Verantwortlichen des statistischen Amts Statec, um sich die neusten Konjunkturprognosen vorlegen zu lassen. Manchen von ihnen, insbesondere aus der Regierungsmehrheit, dürfte dabei etwas mulmig zumute sein. Denn die Statistiker waren zuletzt vor vier Wochen, am 18. Oktober, vor der Kommission erschienen und hatten bedauert, dass ihre bisherigen Schätzungen nicht mehr viel wert seien. Sie würden wiederkommen, sobald ihre neue Konjunkturnote fertig sei.
Der Statec hatte noch im Mai in seiner Konjunkturnote für nächstes Jahr einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 3,5 Prozent vorausgesagt. Zwei Monate später, in der Konjunkturnote von Juli, waren es dann noch 2,8 Prozent. Der Internationale Währungsfonds hatte noch im September Luxemburg ein Wachstum von 2,7 Prozent versprochen. Vergangene Woche räumte auch die Zentralbank in ihrem Haushaltsgutachten ein, dass sie nach den Prognosen vom Sommer „ihre Vorhersagen über die Entwicklung des BIP in den Jahren 2011 und 2012 deutlich nach unten korrigieren“ müsse. Nun geht sie von 0,7 bis 1,1 Prozent Wachstum nächstes Jahr aus, also lediglich der Hälfte der 2,1 Prozent, auf denen der Haushaltsentwurf der Regierung fußt.
Es sind aber nicht nur die Befürchtungen, dass die europäische Schuldenkrise außer Kontrolle gerät und es zu einer zweiten Rezession binnen drei Jahren kommen könnte, die Zweifel an den Konjunkturprognosen für nächstes Jahr aufkommen lassen. Vor allem haben sich die bisher verbreiteten Zahlen über die Wirtschaftsentwicklung der vergangen Jahre als falsch erwiesen. Laut neusten Erkenntnissen des Statec schrumpfte die Wirtschaft im Krisenjahr 2009 nicht um 3,6 Prozent, wie bisher behauptet, sondern um 5,3 Prozent. Und vergangenes Jahr machte der „mechanisch“ genannte Aufschwung keine 3,5, sondern lediglich 2,7 Prozent aus. Gar nicht zu reden von den beiden ersten Quartalen dieses Jahres. Es war aber auf der Grundlage der im Juli errechneten Staatskonten, dass die Regierung für den Haushalt von 2012 ein Wirtschaftswachstum von 2,1 Prozent voraussetzte. Dabei ist nicht einmal ausgeschlossen, dass der Statec noch einmal nachrechnet und zur Erkenntnis kommt, dass der Aufschwung noch schwächer war als angenommen.
Wenn das Wirtschaftswachstum nächstes Jahr aber ein Prozent ausmacht statt der vorgesehenen 2,1, steigt laut Zentralbank das Staatsdefizit um knapp ein Prozentpunkt des Bruttoinlandsprodukts. Wobei sie darauf hinweist, dass sich nächstes Jahr die jeweils mit einigen Jahren Verspätung bemerkbaren Auswirkungen der 2008 begonnenen Krise auf die Körperschaftssteuereinnahmen sowie der Abschaffung der Krisensteuer und der Gehältererhöhungen im öffentlichen Dienst zeigen werden.
Dabei legen nicht erst die verschlechterten Konjunkturaussichten für 2012 den Verdacht nahe, dass die CSV/LSAP-Koalition dabei ist, die Kontrolle über die Staatsfinanzen zu verlieren. Die Regierung hatte im April in ihrer 12. Aktualisierung des Stabilitätsprogramms angekündigt, mit ihrer Haushaltspolitik mittelfristig einen strukturellen Haushalts[-]überschuss von 0,5 Prozent anzustreben. Aber die EU-Kommission stellt in ihren Empfehlungen fest, dass die Regierung bis 2014 keine Anstrengungen macht, um dieses Ziel zu erreichen, dass das Defizit sich sogar vergrößert, statt sich zu verkleinern. Dabei hatte die Kommission ihrerseits sogar zu einem Überschuss von 0,75 bis 1,5 Prozent des BIP geraten.
Mit dem Defizit nimmt aber auch die derzeit noch verhältnismäßig niedrige Staatsschuld zu. Nach Berechnungen des Rechnungshofs steigt die Staatsschuld aus Anleihen und Schatzbriefen ab nächstem Jahr jährlich um eine Milliarde, von 5,3 Milliarden dieses Jahr auf 6,3 Milliarden Euro, 2013 dann auf 7,6 Milliarden und 2014 auf 8,8 Milliarden. Die Guthaben des Fonds zur Begleichung der Staatsschuld sänken gleichzeitig von 80 auf vier Millionen Euro. Zudem weist der Rechnungshof in seinem Haushaltsgutachten darauf hin, dass die „immer beträchtlicheren Garantien“, die der Staat dem Euro-Rettungsschirm FESF und der Bank Dexia gewährt, „zu einem Finanzierungsbedarf führen könnten, der die öffentlichen Finanzen ernsthaft belastet“. Der Staatsrat ist noch deutlicher und befürchtet, dass angesichts der rezenten Entwicklung „diese Garantien sich zumindest teilweise in tatsächliche Ausgaben verwandeln werden“.
Wie die Regierung die Kontrolle über die Staatsfinanzen zu verlieren droht, illustriert der Staatsrat mit der Rechnung, dass die Staatsausgaben seit 2007 um vier Milliarden gestiegen seien, die Ausgaben aber nur um 2,5 Milliarden, was einer Verschlechterung des nunmehr negativen Saldos um 1,5 Milliarden gleichkomme. Doch auch nächstes Jahr würden die Ausgaben schneller wachsen als die Einnahmen. Wobei die Handelskammer die Einnahmeschätzungen sogar noch für übertrieben optimistisch hält und sie um insgesamt eine halbe Milliarde kürzen will, so dass das Defizit nächstes Jahr auf 1,6 Milliarden Euro steigen würde.
Dabei hatte der Haushaltsentwurf für 2010 noch ein Sanierungsprogramm und ausgeglichene Haushalte für alle Abteilungen des Gesamtstaats, also auch für den Haushalt des Zentralstaats, bis 2014 versprochen. Doch, wie viele Berufskammern, klagte der Staatsrat am Dienstag in seinem Gutachten, dass davon keine Spur mehr im Haushaltsentwurf für 2012 zu finden sei. Er stellt vielmehr fest, dass – statt der versprochenen Defizitreduzierung – das Defizit des Staatshaushalts das höchste der vergangenen vier Jahre sei: Seit 2008 werde dieses Defizit strukturell. Die Handelskammer rechnet vor, dass die laufenden Ausgaben des Staates nächstes Jahr, nicht, wie angekündigt, um 34 Millionen zurückgehen, sondern um 6,2 Prozent steigen werden.
Auch dem Rechnungshof ist aufgefallen, dass das versprochene Gleichgewicht von Ausgabenkürzungen und Einnahmenerhöhungen zur Sanierung der Staatsfinanzen im Entwurf für 2012 nicht mehr gewährleistet sei, aufgeschobene Investitionen – zur Freude der Handwerkerkammer – nun wieder vorgenommen werden sollen. Deshalb werde eine künftige Haushaltssanierung wohl „hauptsächlich durch eine Einnahmenerhöhung mittels der Erhöhung der direkten Steuern“ erfolgen. Für die Zentralbank ist jedenfalls klar, dass der Haushaltsentwurf, wie ihn die CSV- und LSAP-Abgeordneten in einem Monat im Parlament stimmen sollen, nicht die der EU-Kommission versprochene Sanierung der Staatsfinanzen vorsieht. So dass sie sich „entweder Änderungsanträge zum Haushaltsentwurf 2012“ erwartet oder dass die auf halbem Weg geplante Überprüfung der Finanzlage auf „den Anfang des Jahres 2012“ vorverlegt wird.
Bei der Aufstellung des Budgets hatte die Regierung offenbar noch an eine Fortsetzung des Aufschwungs geglaubt. Da sie derzeit jede Änderung am Haushaltsentwurf ablehnt, ist nicht auszuschließen, dass das unrealistische Budget, wie in der Krise 2009, über Nacht in ein antizyklisches Budget umgetauft wird. Darauf angesprochen, meinte der Direktor der Handelskammer, Pierre Gramegna, am Dienstag aber, dass antizyklische Haushalte schön und gut seien, aber in der Aufschwungphase werde immer vergessen, die Ausgaben wieder zu senken. Zudem ließen Defizit und Schuldenniveau kaum noch Spielraum für Bemühungen, mit höheren öffentlichen Ausgaben die Konjunktur zu stützen.
Die Zentralbank befürchtet zudem, dass die Lage in den nächsten Jahren nur noch schlechter werden könne. Neben den Folgen der Schuldenkrise und der Basel-III-Vorschriften für Banken drohten die Körperschaftssteuereinnahmen zu sinken, ab 2015 gingen schrittweise die Mehrwertsteuereinnahmen aus dem elektronischen Handel verloren, die ein Prozent des BIP ausmachen, und auch der Tanktourismus, dessen Einnahmen zwei Prozent des BIP ausmachten, nehme ab.
Der Staatsrat erinnert daran, dass gesunde Staatsfinanzen ein großer Vorteil Luxemburgs waren und sieht deshalb die als „deficit spending“ kritisierte Haushaltspolitik der Regierung „mit großer Sorge“. Je länger aber man mit der Sanierung warte, um so länger müsse die nötige „Austeritätspolitik“ dauern. In der gleichen Logik schlägt die Handelskammer deshalb vor, bereits nächstes Jahr einen mittelfristigen Überschuss von 0,5 Prozent anzustreben und deshalb 558 Millionen Ausgaben zu streichen. Um die langfristige Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen zu garantieren, rät auch die Zentralbank, schon nächstes Jahr einen Überschuss von einem Prozent des BIP auszuweisen. Zudem solle die gesetzliche Rentenanpassung an die Lohnentwicklung von 2013 bis 2040 abgeschafft werden. Der Rechnungshof empfiehlt seinerseits, das „Schweizer Modell“ zu übernehmen, wo ausschließlich beim Sozialstaat, dem öffentlichen Dienst und den öffentlichen Investitionen gespart worden sei.
Die Regierung ist dagegen überzeugt, dass sie es nicht allen recht machen kann, und entscheidet sich, zumindest bis auf weiteres mit dem Hausaltsentwurf für 2012, lieber die Wählerbasis von CSV und LSAP zufrieden zu stellen als die Unternehmerverbände und Wirtschaftsgutachter. Statt es den sehr liberalen Finanzsanierern, wie in anderen Ländern nachzumachen, versucht sie, vom Luxemburger Sozial[-]modell zu retten, was noch zu retten ist, und über die Runden zu kommen – weil die Mehreinnahmen sie in der Vergangenheit immer wieder aus der Patsche retteten.
Deshalb konnte die CGFP in ihrer Zeitung zufrieden melden: „Ohne das gewerkschaftliche Einwirken wäre 2012 eine konjunkturell falsche Finanz-, Wirtschafts-, und Sozialpolitik gemacht worden und das Land nicht so schnell aus dem Krisenloch herausgekommen.“ Der Haushaltsentwurf sei „weiterhin extrem vorsichtig. Im Budgetprojekt 2012 sind nämlich nur 10 692 Millionen Euro an Gesamteinnahmen eingeschrieben, während das laufende Jahr 2011 nach letzter Schätzung der Regierung bereits Einnahmen von 10 424 Millionen einbringen wird, genau 1 Milliarde mehr als 2010.”
Und am Mittwoch vergangener Woche empfing CSV-Haushaltsberichterstatter Gilles Roth Generalsekretär Patrick Dury mit weiteren LCGB-Spitzenleuten, um sich unter Parteikollegen über den Haushaltsentwurf für 2012 zu unterhalten. Nach der Unterredung machten die christlichen Gewerkschafter keinen Hehl aus ihrer Begeisterung: „Sozial ausgewogen“, sei der Entwurf, der „den sozialen Zusammenhalt garantiert“.