Dieses Jahr kommt sie wohl nicht mehr auf den Tisch – die Pensionsreform im Privatsektor. Zwar hat Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) erst vor ein paar Wochen bekräftigt, den Entwurf noch vor Ablauf des Jahres im Regierungsrat vorstellen zu wollen. Bei den anhaltenden Schwierigkeiten mit der Gesundheitsreform aber dürfte das Kabinett in den verbleibenden Wochen eher noch den einen oder anderen Änderungsvorschlag am Krankenkassen- oder am Spitalgesetz beschließen, als sich auf ein weiteres politisch heikles Terrain zu begeben. Und da in knapp elf Monaten Kommunalwahlen anstehen, der Wahlkampf in den Gemeinden bereits im Frühjahr einsetzt, könn-ten die beiden Regierungsparteien mit dem Sozialen im Namen die Rentendebatte vielleicht sogar bis nach dem Urnengang verschieben.
Was die Rentendebatte so hochpolitisch macht, ist nicht nur, dass es um die „längerfristige Absicherung des Systems“ geht, wie es im Politjargon heißt. Dazu schrieb die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) 2005 in ihrer Prognose zum Pensionssystem, die sie alle sieben Jahre macht, bis 2028 könnten die Einnahmen die Ausgaben noch übersteigen. Im Frühjahr letztem Jahres rechnete sie vor, das System könne ab 2025 defizitär werden und das Defizit, falls nichts unternommen würde, bis 2060 an die 200 Prozent des BIP erreichen. Die klassische Lösung in einem umlagefinanzierten Pensionssystem wäre es, abzuwarten, ob so ein Szenario sich konkretisiert, und zu gegebener Zeit die Beiträge zu erhöhen. Eine Reform des ganzen Systems wäre gar nicht nötig.
Abzuwarten und zunächst nichts zu tun, schlagen jedoch nicht mal die Gewerkschaften vor, die Betrachtungen, die ein halbes Jahrhundert in die Zukunft reichen, traditionell mit ironischer Skepsis begegnen. Mögen die Reserven der Nationalen Pen-sionskasse (CNAP) sich nach letztem offiziellem Stand Ende 2009 auch auf 9,75 Milliarden Euro oder 3,6 Jahresausgaben belaufen und selbst im Krisenjahr 2009 um über 850 Millionen Euro zugenommen haben – niemand bestreitet, dass steigende Mehrausgaben auf die Pensionskasse zukommen werden: Unter den Grenzpendlern, die das Pensionsalter erreichen, wird der Anteil derjenigen mit Anspruch auf eine Vollrente aus Luxemburg zunehmen. Wenngleich die Gewerkschaften nicht, wie die IGSS, von einer „Welle“ im Ausland ansässiger Vollpensionäre ab 2020 ausgehen.
Die Frage, was zu tun wäre, wurde bisher erst von zwei Extremen her erörtert. Wäre es nach der Union des entreprises luxembourgeoises (UEL) gegangen, die noch während der Koalitionsverhandlungen im Sommer 2009 eine eigene Rentenstudie publik gemacht und sich gegen jede Beitragserhöhung verwahrt hatte, dann hätte die neue Regierung schon vor einem Jahr ein ganzes Maßnahmenpaket zur Ausgabenkürzung durchdrücken müssen. Dem Prinzip der UEL, „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“, begegnete die Salariatskammer im Februar dieses Jahres, nur ein paar Wochen, ehe die Tripartite zum ersten Mal tagte, mit einem umfangreichen Positionspapier von ihrer Seite und mit der Antithese, je früher man der Pensionskasse neue Einnahmen durch höhere Beiträge, eine Wertschöpfungsabgabe auf kapitalintensive Unternehmen oder einen erhöhten Fiskalanteil des Staates zuführe, desto weniger schmerzhaft werde es.
Eines zeigen beide Studien, jeweils von ihrem Standpunkt aus: Einzelmaßnahmen werden voraussichtlich nicht reichen. Den Beitragsanteil auf der Lohnmasse noch in diesem Jahr von derzeit 24 Prozent auf 38 Prozent zu steigern, wie von der Salariatskammer ausgerechnet, ist politisch ähnlich utopisch wie die Leistungskürzung um dieselben 14 Prozentpunkte es wäre, die die UEL als „rein hypothetisches“ Maximalszenario genannt hat.
Ob als Einzelaktion oder im Maßnahmenbündel: Die Änderungen am System werden Umverteilungseffekte haben. Vor fünf Jahren schrieb die IGSS in ihrem Rentenbericht, dass der so genannte Belastungskoeffizient – das zahlenmäßige Verhältnis der aktiven Beitragszahler zu den Pensionsempfängern – sich in den 2030-er Jahren voraussichtlich wieder dem Stand von Mitte der 1980-er Jahre annähern dürfte. Das ist kein Grund zur Beruhigung: Vor einem Vierteljahrhundert lagen die Pensionsversprechen um 29 Prozent unter den heutigen. Die politisch so heikle Frage lautet deshalb: Was wird aus den heute geltenden Versprechen?
Derzeit verfügt Luxemburg über das großzügigste öffentliche Pensionssystem der OECD-Staaten. Im Jahr 2007 garantierte es im Schnitt 92 Prozent des mittleren Brutto-Einkommens der Gesamtbevölkerung, was einer durchschnittlichen Monatsrente von 3 000 Euro brutto entsprach. Gleichzeitig galten hierzulande nach OECD-Maßstäben nur vier Prozent der Pensionsempfänger als arm – so wenige wie nirgendwo sonst in den entwickelten Industriestaaten.
Dass es darum gehen könnte zu entscheiden, ob auch in Zukunft der Perimeter der Sozialversicherung so weit reichen muss, dass er bei ausreichend langer Beitragsdauer bis zu fünf Mal den Mindestlohn garantiert, indexgebunden und alle zwei Jahre an die Reallohnentwicklung angepasst, klang bei den wenigen Anlässen zur rentenpolitischen Diskussion in diesem Jahr nur ganz vorsichtig an. Allein die Grünen wagten sich so weit nach vorn, einer „Grundsicherung“ das Wort zu reden, die ein „anständiges“ Ersatzeinkommen im Alter garantiert. „Anständig“ wären bis zu 5 000 Euro, der dreifache Mindestlohn etwa, meinten Déi Gréng schon Anfang des Jahres.
Ein solcher Rückbau wäre freilich ein Bruch mit der jahrelangen Aufbautradition, die, von OGB-L und LCGB getrieben, zwischen 1987 und dem Rentendësch 2001 durch sukzessive strukturelle Aufbesserungen die Pensionen im Privatsektor an die im öffentlichen Dienst gezahlten anzunä-hern versuchte. Weil eine Senkung der Privatpensionsversprechen den alten Graben wieder aufreißen würde und man damit ohne Weiteres Wah-len verlieren kann, blieben alle Äußerungen der großen politischen Parteien und des Ministers zu dieser Frage außerordentlich vage: Als Anfang Juni die Abgeordnetenkammer zur wichtigsten rentenpolitischen Debatte des Jahres einlud, beschränkten CSV und LSAP sich darauf, das aktuelle System zu loben, und der Sozialminister kündigte lediglich an, in Zukunft werde das System Zusatzindikatoren zu Rate zu ziehen: Je nachdem, wie etwa das BIP, die Beschäftigung, die Arbeitsproduktivität sowie die durchschnittliche Lebenserwartung sich entwickeln, könne daraus folgen, „einen Monat länger zu arbeiten“.
Anfang des Jahres aber hatte Mars Di Bartolomeo erklärt, fest stehe, dass eine Pensionsreform weder an die aktuellen Renten rühren werde, noch an die Pensionsansprüche, die bis zum Inkrafttreten der Reform erworben sein werden. Das heißt nichts weiter, als dass für die derzeit Aktiven die Renten in der momentan noch versprochenen Höhe nicht mehr sicher sind. Folglich könnte im Zuge der Reform sehr wohl definiert werden, welche Einkommenshöhe künftig öffentlich garantiert sein soll. Für den, der mehr will, stellt sich dann die Frage nach der zusätzlichen Absicherung – nicht zuletzt auch, um aus dem aktuellen möglichst weich in einem neuen System zu landen.